Ein paar weniger Bewerbungen hier oder da. So geht es los. Alles nicht dramatisch und vielleicht bloß eine Momentaufnahme. Während der demographische Wandel in Metropolen noch kein Thema ist, ist er in der Provinz und in Ostdeutschland längst Tatsache. Dennoch: Nur wenige Unternehmen gehen die Aufgabe strukturiert an. Das Thema scheint in vielen Finanzabteilungen – abgesehen von der Top-Liga wie Audi oder Allianz -noch nicht angekommen zu sein.
Viele Unternehmen meldeten sich auf unsere Anfrage gar nicht zurück. Einige lehnten eine Stellungnahme ab. Bei anderen, etwa bei Knorr-Bremse in München, heißt es lapidar: „Demographie zählt bei uns derzeit nicht zu den zentralen Themen.“ Auch bei der Kasselaner SMA-Solar sieht man das so. Die Pressesprecherin sagte gegenüber FINANCE: „Ehrlich gesagt, sind wir da noch nicht so weit. Das Durchschnittsalter unserer Belegschaft liegt ja auch erst bei 35 Jahren. Die meisten neuen Arbeitskräfte kommen direkt von der Uni zu uns.“ Mag sein – nur wie lange noch?
Geringes Problembewusstsein
„Das Demographiethema wird dramatisch unterschätzt“, sagt Rainer Strack, Senior Partner bei Boston Consulting (BCG). „Viele Unternehmen reagieren noch gelangweilt auf den demographischen Wandel“, glaubt Dr. Oliver Stettes, Volkswirt beim Institut der deutschen Wirtschaft. Die Lethargie ist unverständlich: Der Pillenknick ist nicht erst seit gestern bekannt, die Zahlen sind nicht bloß Schätzungen. Einfach zu erwarten, dass man weiter wie bisher Fachkräfte bekommt, ist schlicht fahrlässig.
Dazu ein paar Binsenweisheiten: Im Hochlohnland Deutschland verdienen Unternehmen nur mit guten Produkten Geld, die von einer entsprechenden Anzahl gutqualifizierter Mitarbeiter entwickelt, produziert und verkauft werden müssen. Fehlen diese, reißt die Wohlstandskette. Das Unternehmen fällt zurück, die Zahlen werden schlechter. Wenn so ein Prozess ein ganzes Land erfasst, ist die gesamte Wertschöpfung bedroht. Das Tückische: Das Problem wird sich immer weiter verstärken, auch wenn viele große Unternehmen heute immer noch eher geringe Auswirkungen spüren.
Eines ist sicher: Die Belegschaften altern, und von den Schulen und Hochschulen kommt immer weniger Nachwuchs nach. „Wir bekommen heute im Durchschnitt rund ein Drittel weniger Bewerbungen auf unsere Ausschreibungen als 1995“, sagt Prof. Gunther Olesch, Geschäftsführer Personal bei Phoenix Contact in Blomberg, Weltmarktführer für Verbindungstechnik. Im Bereich der qualifizierten Kräfte liegt der Rückgang sogar bei 45 Prozent. Man muss kein Prophet sein, um den zunehmenden Wettbewerb um Fachkräfte zwischen den Unternehmen vorherzusagen, der spätestens in fünf bis zehn Jahren Druck ausüben wird. Zwischen 2020 und 2030 wird es heftig: Dann fehlen fünf Millionen Arbeitskräfte, da die jungen Alterskohorten die in den Ruhestand gehenden älteren Kohorten nicht ersetzen können. Danach wird es noch schlimmer, denn die Geburtenraten sinken.
Kurzsichtiges Management
In den Wirren der Krise, so die Boston-Studie, fiel das Thema hinter dominanten Themen wie Kostensenkungen und Effizienzsteigerung zurück. Mit dem Rücken zur Wand war in vielen Konzernen wenig Platz für langfristige Planung. Dabei lautet eine entscheidende Frage: Wie viel Arbeitskraft brauche ich langfristig, und wie werden Mitarbeiter gezielt weiterentwickelt? Weltweit, so sehen es die Boston-Experten, ist das Thema Demographie eher auf einem absteigenden Ast, obwohl die fatalen Folgen in den Industrieländern erst noch bevorstehen. In Deutschland rangiert es auf dem fünften Rang der wichtigsten HR-Themen. Immerhin, könnte man sagen, doch zu wenig, zählt das Abfedern und Antizipieren demographischer Einflüsse doch zu den schwierigsten Aufgaben für Unternehmen, die eigentlich höher priorisiert werden müssen. Es fehlt allerdings vielerorts an Instrumenten der strategischen Personalplanung.
Es sind interne Konflikte, die die Umsetzung in Unternehmen blockieren. Gerade zwischen Finanz- und Personalabteilung prallen oft Welten aufeinander. „Es ist nicht einfach, Gehör beim Top-Management zu bekommen“, klagt ein Personaler. Ein Grund: Der unterschiedliche Planungshorizont. Hier die kurzfristig optimierte Liquidität und Rendite, dort die Notwendigkeit der Vorfinanzierung von Personalperspektivplanung und von langfristigen Renditen. Oft zieht HR dabei den Kürzeren. Die Finanzer verlangen eine Prognose, welchen Gewinn die neueingestellten Ingenieure bringen werden. „Aber kein Mensch weiß, was die mal erfinden werden“, antwortet Phoenix Contact-Mann Olesch auf diese Einwände: „Man weiß nur, man wird sie brauchen.“
Dabei hat er die Langfristperspektive fest im Blick: Die Ostwestfalen kalkulieren mit rund 10 Prozent Wachstum pro Jahr. „Die Weichen dazu müssen schon fünf bis zehn Jahre früher gestellt werden.“ Nur durch viele Diskussionen kann das Spannungsfeld produktiv überbrückt werden. Je nach Kassenlage sind diese unterschiedlich heftig. Langfristig agierene Konzerne sind im Vorteil. So adressiert der Technologiekonzern Voith das Thema mit einem Sechs-Punkte-Programm. Zentrale Inhalte: Bewusstsein schaffen, betriebliche Ausbildung und Weiterentwicklung während der gesamten Laufbahn vom Facharbeiter bis hin zum Top-Management und Personalmarketing. Das Credo: Jeder Einzelne trägt Verantwortung für den Endwert der Maschine.
Dicke Bretter bohren
HR hat dabei eine Aufgabe wie ein Entwickler, der die Langzeitrendite im Auge haben muss. Es ist die Aufgabe der Personaler, missionarisch und visionär aufzutreten“, sagt Olesch. Die BCG-Berater raten, HR ähnlich wie Corporate Finance zum internen Berater einzelner Geschäftseinheiten zu machen. Dazu gehört auch, die Erkenntnis zu verankern, dass zukünftig Arbeitskräfte fehlen werden, egal wie die Konjunktur gerade läuft.
Im Radius von 120 Kilometern – so schätzt man die durchschnittliche Mobilitätsbereitschaft der Arbeitskräfte ein – um seine fünf deutschen Werke analysiert das Unternehmen die demographische Struktur. Dies überführt das Unternehmen in eine Reihe fein aufeinander abgestimmter Maßnahmen (siehe Kasten). Diese sind für sich genommen nicht neu.
Trotz des angesprochenen deutlichen Rückgangs an Bewerbungen gelingt es Unternehmen mit gutem Employer Branding besser als anderen, freie Stellen zu besetzen. Während der BDI-Durchschnitt bei 62 Prozent liegt, schafft etwa Phoenix Contact 87 Prozent und das, „obwohl wir hier – vorsichtig gesagt – nicht gerade zentral sitzen“, wie Olesch feststellt.
Das heißt zugleich, dass die Mehrheit der großen Mittelständler anders als die wenigen schon heute sehr stark internationalisierten Weltunternehmen, die den Auslandsanteil bei nachlassendem inländischem Fachkräftepotential tatsächlich verlagern könnten, auch weiterhin auf Deutschland mit seinem schrumpfenden Fachkräfteangebot zurückgeworfen ist. Hoffnung setzen Forscher in die stärkere Aktivierung von Frauen für naturwissenschaftliche und technische Berufe (MINT).
Eine stärkere Trennung von Zentrale und Werkbank und damit eine stärkere Internationalisierung ist für viele große Mittelständler kaum vorstellbar. „Die Stärke der deutschen Industrie beruht im Kern auf der engen Verbindung zwischen Forschung und Produktion“, sagt Dr. Oliver Stettes vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Hinzu kommt, dass etwa China und Indien durch Alterung und mangelnde Bildung vor eigenen Herausforderungen stehen.
Nach insgesamt 15 Jahren hat man in Blomberg mit dem Thema bereits einige Erfahrung. Das Durchschnittsalter der Belegschaft liegt bei 38 Jahren und damit nur wenig höher als bei SMA Solar, wo man das Thema noch als nachrangig ansieht. 1990 lag dieses bei Phoenix Contact noch bei 31 Jahren. Stoppen kann man den Prozess nicht, höchstens bremsen.
In diesem Jahr starten die Blomberger eine erneute Offensive. Die Ausbildungsquote steigt auf ein Drittel über den eigentlichen Bedarf. So fühlt man sich für den höheren Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt gerüstet. Man muss mit dem arbeiten, was da ist. Rekrutiert wird vermehrt aus bildungsfernen Schichten. Wer hätte gedacht, dass die Demographie ein Hebel für die Unterschichtenproblematik werden könnte? Unternehmen als Integratoren aus Eigeninteresse: Wie finden Sie das, Herr Sarrazin?
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