Der aufkommende Megatrend der selbstfahrenden Autos – auch bekannt als autonomes Fahren – mischt die Karten unter den Autozulieferern neu. Um den Menschen am Steuer zu ersetzen, braucht es Technologien analog zu den menschlichen Fähigkeiten zu sehen, zu verstehen, zu beurteilen, zu entscheiden und zu handeln. „Das führt zu einem M&A-Boom, bei dem viele Branchen mitmischen“, beobachtet Jay Marathe, der als Managing Director bei der Investmentbank Bryan Garnier den Zulieferersektor im Blick hat.
Halbleiterkonzerne greifen nach Tech-Spezialisten
Einer der neuen Spieler am Zulieferermarkt für autonomes Fahren sind Halbleiterkonzerne wie der Dax-Konzern Infineon. Die M&A-Aktivitäten der Chiphersteller spielen sich vor allem im Bereich „Verstehen“ ab, da sie erkannt haben, dass Hochgeschwindigkeitsprozessoren und Computerchips für das autonome Fahren unerlässlich sind.
Die große Herausforderung: Die von vielen Sensoren und Kameras gesammelten Informationen müssen in Echtzeit zu einem korrekten Gesamtbild der Umwelt des Autos zusammengesetzt werden. Chips sind dafür die Schnittstelle, und deshalb haben die Halbleiterkonzerne laut Marathe im autonomen Fahren ein großes Wachstumsfeld ausgemacht und investieren kräftig: „Nischenplayer mit etablierten Umsätzen werden teuer eingekauft – teilweise mit Kaufpreismultiples von 30 bis 40 mal Umsatz“, meint der Sektorspezialist.
Erst vergangenen Dezember hat Infineon das Halbleiterunternehmen Innoluce BV übernommen, das Chiplösungen für sogenannte Lidarsysteme entwickelt, mit denen Abstands- und Geschwindigkeitsmessungen durchgeführt werden können. Für die Übernahme des US- Chipherstellers Wolfspeed war Infineon bereit, 850 Millionen US-Dollar zu bezahlen, doch die Transaktion scheiterte am Veto der US-Regierung. Diesen März kaufte Intel schließlich für 15 Milliarden US-Dollar den israelischen Sensorhersteller Mobileye und soll ein Jahr zuvor für Movidius sogar 35 mal Umsatz bezahlt haben, um sich deren Chiplösungen für maschinelles Lernen zu sichern.
Auch Google mischt bei M&A-Deals mit
Da im modernen und vernetzten autonomen Auto die Software im Vergleich zur Hardware immer wichtiger wird, ruft das zwangsläufig auch Softwarekonzerne am M&A-Markt auf den Plan. „Google hat das erkannt und treibt die Entwicklung entsprechender Technologien voran oder kauft diese zu“, beobachtet Marathe.
Im September 2016 investierte auch der japanische Anbieter von digitalen Kartensystemen Zenrin in das US-Unternehmen Abalta Technologies, das Softwarelösungen rund um vernetzte Autos und Infotainment anbietet. Der Trend ist global, denn erst im April übernahm die chinesische Suchmaschine Baidu mit Xperception einen Entwickler von Hard- und Software für die visuelle Wahrnehmung – eine Technik mit entscheidender Bedeutung für das autonome Fahren.
Champions wie Conti und ZF kaufen im Bereich „Sehen“
Dass diese neuen Anbieter in das Automotive-Geschäft drängen, setzt etablierte Konzerne wie Continental oder ZF Friedrichshafen unter Druck. Das liegt vor allem daran, dass Bereiche wie die Sensortechnik oder Kontrollsysteme zunehmend marktreif sind und damit tendenziell an Wert verlieren. Dies ist bisher das Herrschaftsgebiet der traditionellen Zulieferer. Diese müssen in der Wertschöpfungskette der Zulieferer deshalb einen neuen Platz finden oder selbst das neue Technologie-Know-how aufbauen. Beides geschieht in erster Linie über Zukäufe. „Die traditionellen Zulieferer konzentrieren sich vor allem auf Technologien aus dem Bereich des Sehens“, beobachtet Marathe.
Im August vergangenen Jahres stieg ZF Friedrichshafen beim Lidar-Marktführer Ibeo ein, um auf dessen Technologie und Software zur Umgebungserkennung zugreifen zu können. Erst vor wenigen Monaten übernahm der französische Automobilzulieferer Valeo das deutsche Start-up Gestigon, das eine 3D-Bildverarbeitungssoftware entwickelt hat. Bei Continental sind Lidar-Unternehmen schon seit Jahren Teil der M&A-Strategie: Im Mai 2015 übernahm der Dax-Konzern Advanced Scientific Concepts (ASC) aus den USA.
Jagd nach Technologie befeuert M&A-Boom im Autosektor
Jay Marathe ist sich sicher, dass die traditionellen Zulieferer ihren finalen Platz in der Wertschöpfungskette für autonomes Fahren noch nicht gefunden haben. Der M&A-Experte rechnet deshalb mit einem noch stärkeren Deal-Aufkommen in den kommenden Monaten und Jahren. „Softwareunternehmen wie Google haben es zwar aufgeben, ein komplett eigenentwickeltes selbstfahrendes Auto an den Markt zu bringen, dennoch werden sie punktuell weiter zukaufen, um sich einen Teil der Wertschöpfungskette zu sichern“, ist sich Marathe sicher.
Hinzu kommt, dass das autonome Fahren den nötigen Reifengrad noch lange nicht erreicht hat In der Automobilbranche wird der Autonomiegrad in fünf Stufen eingeteilt: ohne Füße, ohne Hände, ohne Augen, ohne Verstand und ohne Fahrer. Marktreife Lösungen bieten die Autobauer laut Bryan Garnier aktuell nur in der ersten Stufe an. „Themen wie künstliche Intelligenz, High Speed Data Processing, Sensor Fusion oder 3D-Mapping werden deshalb in der Zuliefererwertschöpfungskette immer wertvoller und werden den M&A-Markt noch über Jahre befeuern“, erwartet Marathe. Das Wettbieten um Technologieunternehmen hat gerade erst begonnen.