Siemens wagt sich für den Ausbau des Industriesoftwaregeschäfts erneut an einen M&A-Deal: Für einen Preis von 37,25 US-Dollar in bar wollen die Münchener Mentor Graphics übernehmen. Das Unternehmen mit Sitz in Oregon ist auf Automatisierungssoftware spezialisiert, insbesondere für die Konstruktion von Halbleitern. Siemens bewertet Mentor inklusive Schulden mit einem Enterprise Value von 4,5 Milliarden Dollar.
Der Angebotspreis von 37,25 Dollar je Aktie entspricht einer Prämie von 21 Prozent gegenüber dem Schlusskurs der Mentor-Graphics-Aktie vom vergangenen Freitag, dem letzten Handelstag vor der Ankündigung des M&A-Deals. Bei gut 108 Millionen ausstehenden Aktien bringt es Mentor Graphics gemessen an diesem Schlusskurs auf einen Börsenwert von rund 3,3 Milliarden Dollar. Das Siemens-Angebot bewertet die 108 Millionen ausstehenden Aktien mit gut 4 Milliarden Dollar.
Mentor-Graphics-Aktienkurs hat Achterbahnfahrt hinter sich
Der Aktienkurs von Mentor Graphics ist im vergangenen Jahr kontinuierlich gestiegen – allerdings ging diesem Anstieg ein deutlicher Einbruch voraus. In der ersten Novemberhälfte 2015 war der Kurs von 28 auf 18 Dollar eingebrochen. Im Februar 2016 erreichte er bei 16,7 Dollar den Tiefststand der vergangenen 12 Monate. Seitdem hat sich die Aktie wieder fast verdoppelt: Der Kurs stieg kontinuierlich und überwand vergangene Woche sogar die 30-Dollar-Marke – das war sogar mehr als vor dem Absturz im November 2015.
Die Kursrallye wurde auch durch den Einstieg des Hedgefonds Elliott im September getrieben, der 8,1 Prozent an Mentor Graphics erworben hatte. Begründung: Die Aktie sei massiv unterbewertet. Gegenwind hat Siemens von dem als umtriebig bekannten Investor, der erst vor kurzem die Übernahme des deutschen 3D-Druckspezialisten SLM Solutions durch General Electrice vereitelte, aber wohl nicht zu befürchten: Sowohl das Board of Directors von Mentor als auch Elliott selbst unterstützten die Transaktion, heißt es aus München. Der Abschluss des Milliardendeals wird für das zweite Quartal 2017 erwartet.
Für Siemens ist Mentor Graphics ein weiterer Schritt auf dem Weg der digitalen Transformation. Der M&A-Deal erweitert das Digital Enterprise Portfolio der Münchener um Lösungen, die für vernetzte Smart-Produkte wie autonomes Fahren benötigt werden. In das Geschäft mit Industriesoftware hatten die Münchener in diesem Jahr schon einmal groß investiert: Im Januar verstärkten sie sich für knapp 1 Milliarde Dollar mit dem Unternehmen CD-adapco. Auch der Einstieg in das Geschäft rund um den Aufbau digitaler Fabriken erfolgte vor zehn Jahren mit einer Milliardenübernahme in den USA – damals erwarb der Dax-Konzern das Softwareunternehmen UGS.
Siemens sieht nur wenig Synergien mit Mentor Graphics
Die Münchener setzen neben innovativen Produkten auch darauf, dass Mentor Graphics seine zuletzt attraktiven Margen weiter halten kann. Das in 32 Ländern tätige Unternehmen erzielte im Geschäftsjahr 2016, das bei Mentor Graphics zum 31. Januar 2016 endete, einen Umsatz von rund 1,2 Milliarden Dollar und eine bereinigte Marge von 20,2 Prozent. Siemens erwartet nach eigenen Angaben, dass diese Margen auch in der Zukunft erzielt werden.
Dass Siemens den Neueinkauf aber teuer bezahlt, zeigt nicht nur das hohe Umsatz-Multiple von nahezu 4x. Auch die Synergie- und Gewinnbetrachtung fallen ähnlich aus. Die Synergien auf Ebene des operativen Gewinns (Ebit) von 100 Millionen Dollar, die Siemens im vierten Jahr nach Abschluss des Deals erwartet, fallen mit nur etwas mehr als 2 Prozent des Kaufpreises niedriger aus als am M&A-Markt üblich. Auch dass der Neueinkauf erst im dritten Jahr nach der Übernahme positiv zum Gewinn je Aktie beitragen soll, ist ungewöhnlich spät.
Allerdings stärkt Siemens mit Mentor Graphics einen boomenden und äußerst ertragsstarken Geschäftsbereich: Die Münchener wollen Mentor in das Geschäft in die Siemens-Division Digital Factory integrieren, wo Siemens im vergangenen Geschäftsjahr bei einem Umsatz von 10,3 Milliarden Euro einen operativen Gewinn von 1,7 Milliarden Euro einfuhr. Mit einer Umsatzrendite von 16,6 Prozent ist dieser Geschäftsbereich konzernweit der margenstärkste nach der Medizintechnik.