Lateinamerika hat sich von der Coronakrise, die die Region überproportional getroffen hat, im Vergleich zu den meisten Industrieländern bisher nur unterdurchschnittlich erholt. Dies liegt nicht nur daran, dass die meisten Länder der Region bei der Impfung der Bevölkerung gegen das Coronavirus längere Zeit hinterherhinkten. Eine wichtige Rolle spielt auch, dass sie nicht mit so umfangreichen Hilfs- und Konjunkturprogrammen aktiv gegensteuern konnten wie insbesondere die USA. Dennoch haben diese Länder einen Teil der in der Corona-bedingten tiefen Rezession entstandenen volkswirtschaftlichen Verluste bereits wieder auf holen können.
Zudem haben sich die konjunkturellen Aussichten in den vergangenen Monaten, auch durch stärker werdende Impffortschritte, merklich verbessert. Dies zeigt vor allem der deutlich in der Expansionszone liegende Einkaufsmanagerindex für Brasilien. Weiterhin sollten die Länder Lateinamerikas auf zweifache Weise von ihrem großen Rohstoffreichtum profitieren. Zum einen sind die Rohstoffpreise durch die rasche und kräftige Erholung der Weltwirtschaft und die damit verbundene spürbar anziehende Nachfrage merklich gestiegen.
Zum anderen werden zahlreiche Rohstoffe wie Kupfer und Lithium, die bei der notwendigen Transformation der Weltwirtschaft hin zu einer stärker ökologisch ausgerichteten Wirtschaftsweise benötigt werden, in dieser Region abgebaut. Dies verbessert die Voraussetzungen für eine weitere konjunkturelle Belebung in Lateinamerika. Als langfristiger Pluspunkt kommt eine attraktive Demographie mit zahlreichen jungen Konsumenten hinzu.
Leitzinserhöhungen könnten bremsen
Vorübergehend bremsend könnte dagegen wirken, dass die Notenbanken der zwei größten Länder, Brasiliens und Mexikos, ihre Leitzinsen wollen auf diese Weise frühzeitig einer Zunahme der Inflationserwartungen entgegenwirken. Zudem werden sie auf dem Weg zur Normalisierung der Geldpolitik angesichts deutlich gestiegener Inflationsraten voraussichtlich weitere Zinsschritte folgen lassen.
Vor dem Hintergrund dieser volkswirtschaftlichen Perspektiven bleibt Lateinamerika sowohl auf der Renten als auch auf der Aktienseite eine interessante Anlagealternative. Diese Region ist in vielen Portfolios nicht oder nur indirekt über ein Emerging-Markets-Produkt vertreten. Daher besteht an dieser Stelle ein teilweise nicht unerheblicher Nachholbedarf.
Aktien sind niedrig bewertet
Bei einem Engagement in Lateinamerika ist erfahrungsgemäß mit größeren Schwankungen zu rechnen. So hängen die Zuflüsse in diese Anlageregion stark von den aktuellen konjunkturellen und politischen Perspektiven ab. Durch die Anhebung der Leitzinsen in den größten Ländern der Region nimmt die Attraktivität der jeweiligen Währungen und Anleihen zu. Dämpfend könnte jedoch die Notwendigkeit zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen wirken, deren Situation sich in den vergangenen Jahren merklich verschlechtert hat.
Relativ unabhängig von dieser Entwicklung sind lateinamerikanische Unternehmensanleihen, die langfristig eine Outperformance gegenüber Emerging-Markets-Anleihen aufweisen. Eine ebenfalls hohe Attraktivität besitzen lateinamerikanische Aktien. Diese sind derzeit – gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis – sowohl im internationalen wie im historischen Vergleich relativ niedrig bewertet. Die Analysten revidierten die Gewinnerwartungen für die lateinamerikanischen Unternehmen jedoch zuletzt mehrheitlich immer weiter nach oben. Nehmen die Unternehmensgewinne tatsächlich entsprechend zu, so dürfte dies in der Zukunft zu weiteren Kursanstiegen führen.
Autor
Dr. Klaus Schrüfer ist Chief Market Strategist bei Santander Asset Management in Deutschland in Frankfurt am Main.
Kontakt: klaus.schruefer[at]santanderam.com