Herr Gentz, Sie haben vor kurzem öffentlich vor einer Compliance-„Hysterie“ gewarnt. Sind Deutschlands Unternehmen auf einem falschen Weg?
Zum Teil ja. Viele Unternehmen haben mittlerweile sehr kleinteilige Compliance-Regeln. Das gilt besonders für diejenigen, die beispielsweise wegen Korruptionsvorwürfen in den Fokus der US-Behörden geraten sind. Die Folge dieser internen Überregulierung ist, dass Mitarbeiter ständig Angst vor potentiellen Compliance-Verstößen haben. Früher haben sie selbst entschieden, ob sie mit einem Kunden essen gehen oder ein Werbegeschenk annehmen. Heute müssen sie für alles und jedes eine Erlaubnis einholen. Das führt dazu, dass Entscheidungen in Unternehmen oft gar nicht oder nur verzögert getroffen werden können. In manchen Unternehmen ging damit das vernünftige Maß verloren.
Die strikten Vorgaben sind eine Folge der strengen Regulierung durch den Gesetzgeber.
Das ist das Problem. Aber viele Unternehmen und der Gesetzgeber übersehen einen entscheidenden Aspekt: Menschen haben eigentlich ein gutes Gefühl dafür, was sie tun dürfen und was nicht. Je stärker die Regulierung, desto weniger denken Menschen darüber nach, was richtig und was falsch ist. Sie ordnen sich schlicht den Vorgaben unter und entwickeln dieses Gefühl nicht mehr. Das ist ein gefährlicher Trend: Kein Gesetz und keine interne Regelung deckt alles ab, die Lebenswirklichkeit ist immer vielfältiger. Menschen brauchen also immer eine eigene verantwortliche Einschätzung für die Vertretbarkeit und Ordnungsmäßigkeit ihres Handelns.
Gibt es Leute, die Ihre Ansicht teilen?
Allerdings. Ich habe bei einigen großen Unternehmen in den vergangenen Monaten auch eine Art Kehrtwende beobachtet: Sie machen sich von der internen Überregulierung frei. So ein vorsichtiger Rückweg wäre insgesamt eine gute Entwicklung, ist aber natürlich nicht einfach.
Ließe sich so etwas den Stakeholdern und der Öffentlichkeit überhaupt verkaufen?
Dieser Schritt impliziert natürlich nicht, dass ein Unternehmen seine Compliance-Vorschriften aufhebt. Klare Regeln mit Blick auf mögliche Verstöße gegen das Kartellrecht, Rechnungslegungsvorschriften oder Fälle, in denen sich Führungskräfte unzulässig bereichern, sind und bleiben notwendig. Dies sind auch Themen von öffentlichem Interesse. Die Frage aber, ob man einen Kaffee annehmen kann oder eine Einladung zu einem normalen Mittagessen, sollte der einzelne Mitarbeitende und sollten in vernünftigem Rahmen vor allem Führungskräfte selbst beantworten dürfen.
Wie viel Freiraum sollten Unternehmen sich denn guten Gewissens nehmen?
Sie sollten ihren Mitarbeitern in persönlichen Schulungen beibringen, nicht nur die Regeln zu kennen, sondern selbst Verantwortung zu übernehmen. Dazu geben die Schulungen Orientierung. Das ist der wesentliche Kern einer vernünftigen Regulierung. Was in Broschüren oder Leitfäden festgehalten wird, wandert meist ohnehin einfach in die Schublade.
„Die unbegrenzte Vorstandshaftung ist ein echtes Problem“
Hinter strengen internen Vorgaben steht oft aber auch die Sorge der Organe, für Verfehlungen im Unternehmen am Ende selbst belangt zu werden. Sie waren selbst viele Jahre lang Vorstand bei Daimler und in mehreren Aufsichtsräten vertreten. Sie müssten das beurteilen können.
Ich denke schon, dass die Vorsicht von Vorständen und Aufsichtsräten zugenommen hat. Aber dabei geht es mehr darum, ob der Vorstand bei einer Entscheidung die erforderliche Sorgfalt beachtet oder einen falschen Maßstab gewählt hat. Dann steht auch schnell der Vorwurf der Untreue im Raum, und das ist der schwammigste Straftatbestand im deutschen Strafrecht. Die Summen an Schadensersatz, die in diesem Zusammenhang gefordert werden können, bringen einen normalen Menschen um. Deshalb wird ja auch diskutiert, ob eine Haftungsbegrenzung eingeführt werden sollte.
Halten Sie das für notwendig?
Die unbegrenzte Haftung ist aus meiner Sicht ein großes Problem. Es wäre tatsächlich überlegenswert, eine Obergrenze einzuführen. Das würde Vorständen und Aufsichtsräten auch den Abschluss von D&O-Versicherungen erleichtern.
Ein Fall für den Gesetzgeber oder für die einzelnen Unternehmen?
Auch hier gilt: Der Gesetzgeber sollte sich vor jedem einzelnen Regulierungsschritt drei Mal überlegen, ob eine Vorschrift wirklich gebraucht wird. Jede Regulierung schränkt Freiheiten ein und tötet die Selbstverantwortung. Die Unternehmen sollten selbst darüber entscheiden dürfen, ob und in welcher Höhe sie eine Grenze einführen wollen. Das wäre beispielsweise auch über die jeweilige Satzung möglich.