Für Thorsten Holten war die Nachricht, dass Wirecard in einen Bilanzskandal verwickelt ist, ein totaler Schock: Bis es zum Showdown am 18. Juni kam – damals verschob der Zahlungsdienstleister zum wiederholten Male die Veröffentlichung des Jahresabschlusses – glaubte er an die Wahrhaftigkeit des Geschäftsmodells und die Richtigkeit der Bilanz. Das erzählte der seit 2002 für Wirecard tätig gewesene Treasurer der FINANCE-Schwesterpublikation DerTreasurer (das vollständige Interview finden Sie hier).
Wirecard-Treasurer hatte bis zuletzt Hoffnung
Kurz darauf überschlugen sich die Ereignisse bei Wirecard. Rückblickend war für Holten die Verschiebung des Jahresabschlusses das Signal: Für ihn „war ab dann klar, dass Betrug im Spiel war“. Aufgeben war für Holten aber zunächst keine Option: Bis es zur Insolvenz am 25. Juni kam, habe das Treasury weiterhin „mit Hochdruck daran gearbeitet, das Überleben von Wirecard zu sichern“.
Der Ex-Treasurer hatte noch die Hoffnung, dass der Konzern oder Teile davon weitergeführt werden können. „Bis dahin wollte ich nicht daran glauben, dass die Guthaben auf den Treuhandkonten nicht existieren“, erinnert sich Holten. Mit dem Insolvenzantrag verpuffte dann auch der letzte Hoffnungsschimmer.
Treasurer vertraute der Wirecard-Führung
Die immer wieder hochkochende, öffentliche Kritik an dem Zahlungsdienstleister habe er natürlich mitbekommen, auch die Betrugsvorwürfe. Intern habe man dies aber als Shortseller-Attacken abgetan, „die man nicht immer ganz ernst nimmt“, gibt Holten zu. Dass er als oberster Kassenwart trotz der schweren Anschuldigungen so lange „keinen Grund hatte, dem Unternehmen den Rücken zu kehren, in dem [er sich] eine gute Position aufgebaut hatte“, lag unter anderem auch an dem Vorgehen der Bafin.
Dass diese Wirecard im Februar 2019 in Schutz nahm, ein zweimonatiges Leerverkaufsverbot für Wirecard-Aktien verhängte und später auch eine Anzeige gegen die „Financial Times“ stellte, war offenbar ein wesentlicher Grund dafür, dass sich die Wirecard-Mitarbeiter sicher fühlten und intern kein Veränderungsdruck aufkam. „Aus meiner Sicht gab es deshalb lange keinerlei Verdachtsmomente für Betrug“, resümiert der Treasurer, der seinen Chefs bis zum Schluss vertraute. „Der Vorstand hatte alle wesentlichen Transaktionen abgesegnet.“ Er sei davon ausgegangen, dass diese ihre Richtigkeit hätten.
„Aus meiner Sicht gab es lange keinerlei Verdachtsmomente für Betrug. Der Vorstand hatte alle wesentlichen Transaktionen abgesegnet.“
Info
Das vollständige Interview mit dem Wirecard-Treasurer Thorsten Holte finden Sie bei der FINANCE-Schwesterpublikation DerTreasurer (erstmals veröffentlicht im E-Magazin 23/2020).
Olivia Harder ist Redakteurin bei FINANCE und verfolgt schwerpunktmäßig die aktuellen Entwicklungen im Private-Equity- und M&A-Geschäft. Sie hat Philosophie, Politikwissenschaften, Soziologie und Geographie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen studiert, wo sie auch einen Lehrauftrag innehatte. Vor FINANCE arbeitete Olivia Harder in den Redaktionen mehrerer Wochen- und Tageszeitungen, unter anderem beim Gießener Anzeiger.