Mit Spannung erwarten die Beobachter das für den Frühsommer avisierte Inkrafttreten der EU-Verordnung zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (KI). Durch die Verordnung erfährt die Anwendung von KI stärkere (Rechts-)Klarheit und zahlreiche Spannungsfelder werden aufgelöst, auch wenn – wie immer – viele Zweifelsfragen bleiben werden. Mit dem Inkrafttreten wird das ohnehin äußerst relevante Thema abermals in aller Munde sein.
Politisch stellt sich vor allem die Frage, ob es sinnvoll ist, dass die EU hier vorprescht – und es besteht das Risiko, dass die Regulierung in diesem Fall zum einen Innovationen hemmt und zum anderen der technischen Entwicklung hinterherläuft. Dem wirkt die EU mit einem risikobasierten Ansatz und der Einführung von Reallaboren entgegen.
Losgelöst von der Einführung dieses Rechtsrahmens bieten Restrukturierungsprojekte dabei ungewöhnlich große Chancen und sind geradezu prädestiniert für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz.
KI-Tools hilfreich bei Investitionsentscheidungen
Schließlich geht es zu Beginn nahezu jedes Projekts darum, unter enormem Zeitdruck die finanzielle Situation der Gesellschaft zu analysieren, determiniert doch diese maßgeblich, ob und gegebenenfalls welche Sanierungsoptionen überhaupt zur Verfügung stehen. Für diesen „Use Case“ haben sich bereits zahlreiche Produkte auf dem Markt etabliert, die die bestehende – und ja typischerweise nicht auf die Anforderungen der deutschen Insolvenzordnung ausgerichtete – Buchhaltung der Gesellschaft auswerten und die Erstellung von Finanzstatus, Liquiditätsplanung etc. übernehmen können.
KI-Anwendungen können in allen Phasen der Restrukturierung – von der Prüfung der Liquiditätssituation im Rahmen der Krisenfrüherkennung bis zur Erstellung des Gutachtens des Insolvenzverwalters oder des Insolvenzplans – eingesetzt werden. Für Banken und Investoren können KI-Tools hilfreich bei Investitionsentscheidungen sein und bei der Kredit-prüfung- und -bearbeitung auch einen Mangel an qualifiziertem Personal ausgleichen.
Chance und Risiko zugleich
In der scheinbar größten Stärke der schnellen und effizienten Erfassung großer Datenmengen liegt jedoch gleichzeitig auch das größte Risiko, denn die Qualität der künstlich generierten Finanzplanung – ihrerseits Basis der zu treffenden Entscheidung – hängt von der Güte und Vollständigkeit der durch die kriselnde Gesellschaft zur Verfügung gestellten Daten ab. Nicht selten sind dann (fähige) Mitarbeiter auch nur noch schwer greifbar.
In einer Situation, in der jede Entscheidung weitreichende Konsequenzen für alle Stakeholder hat und – gerade in Deutschland – auch enorme Haftungsrisiken mit sich bringen kann, sind auch minimale Unsicherheiten nur schwer zu ertragen. Auch hierfür gibt es bereits erste KI-Anwendungen, die Plausibilitäts- und Schnittstellenkontrollen vornehmen. Es ist an den Beratern, hierfür die richtigen Lösungen zu nutzen, denn die kriselnde Gesellschaft befindet sich (in der Regel) zum ersten Mal in dieser Ausnahmesituation und wird keine Erfahrung mit dem Umgang entsprechender KI-Tools haben.
Ungeachtet dessen ist aber auch das kriselnde Unternehmen selbst gegebenenfalls (faktisch) verpflichtet, mögliche Anwendungsbereiche von KI für sich zu evaluieren; dies nicht zuletzt, weil die Zertifizierung der nachhaltigen Sanierungsfähigkeit gemäß IDW-Standard S6 durch einen Wirtschaftsprüfer – Grundlage jeder Sanierung – nur dann zulässig ist, wenn die Gesellschaft innerhalb von drei bis fünf Jahren wieder nachhaltig in der Lage sein wird, eine marktübliche Eigenkapitalrendite zu erwirtschaften. Es dürfte Einigkeit bestehen, dass – wenn nicht jetzt, dann künftig – die Wettbewerbsfähigkeit und insbesondere deren Wiederherstellung die Nutzung der Möglichkeiten von KI erfordert.