Verdächtige Tonlagen verraten Bilanzlügen

Die Lage der Firma ist ernst, gleich mehrere Großkunden haben in den vergangenen Wochen Aufträge storniert. Intern geht der Vorstand davon aus, dass die Verkaufserlöse schrumpfen; das Unternehmen kann sich glücklich schätzen, wenn es am Ende des Jahres nicht rote Zahlen schreiben muss. Der CFO beschließt jedoch, diese wichtige Information auf dem anstehenden Conference Call mit Analysten zu verschweigen. Der Umsatz werde im laufenden Jahr um 5 Prozent steigen, die Erträge sogar um 8 Prozent, kündigt der Top-Manager an. Das allzu rosige Bild, das der Finanzchef wider besseres Wissen zeichnet, stößt bei manchen Analysten auf Skepsis. Angesichts der flauen Konjunktur haben Mitbewerber Gewinnwarnungen ausgegeben. Doch der CFO hat sich gründlich auf die zu erwartenden kritischen Fragen vorbereitet. Routiniert präsentiert er Argumente, die seine allzu optimistische Vorhersage stützen sollen. Dennoch sind nicht alle Teilnehmer an der Konferenz restlos überzeugt. Manche Analysten haben das dumpfe Gefühl, dass der CFO anders spricht als sonst, lauter und mit gepresster Stimme. „Kritische, womöglich unerwartete Fragen von Analysten oder Journalisten bringen die CFOs oft buchstäblich ins Schwitzen.“ Doron Reichmann, Ruhr-Universität Bochum. Tatsächlich enthält solch ein vager Verdacht oft mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Wenn ein Finanzchef auf einer Pressekonferenz oder bei einem Analystentreffen ungerechtfertigt positive Prognosen zu seinem Unternehmen abgibt, dann kann sich dies in seiner Stimme niederschlagen. „Die Art und Weise, wie ein CFO spricht, gibt Informationen preis, die für Analysten und Fondsmanager sehr nützlich sein können“, sagt Doron Reichmann von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Emotionen lassen sich nicht komplett unterdrücken Auch bei größter Anstrengung kann ein Sprecher seine Emotionen nicht perfekt unterdrücken. Denn das Sprechen beruht auf einem ungemein komplizierten Mechanismus, an dem im menschlichen Organismus zahllose Muskeln und bewegliche Härchen beteiligt sind. Manager absolvieren heute im Allgemeinen eine Rhetorikschulung, bei der sie unter anderem lernen, ihre Stimmen zu kontrollieren. Sprachtrainer räumen jedoch ein, dass dies fast nie zu 100 Prozent gelingt. Mimik und Gestik sind wesentlich leichter zu manipulieren als die Stimme. „Beim Verlesen von sorgfältig formulierten Redetexten ist es noch am ehesten möglich, so zu sprechen, dass die Stimme den Redner nicht verrät. Doch kritische, womöglich unerwartete Fragen von Analysten oder Journalisten bringen die CFOs oft buchstäblich ins Schwitzen“, sagt Reichmann. Der Wissenschaftler, Leiter der Bochumer Forschungsgruppe Finance, Accounting, Auditing, Controlling and Taxation (FAACT), hat mit seinen Kollegen eine großangelegte Untersuchung durchgeführt, um herauszufinden, wie sich flunkernden Finanzchefs auf die Schliche kommen lässt. Das Team wertete mehr als 8.000 Conference Calls US-amerikanischer Unternehmen aus, die im Zeitraum von 2015 bis 2020 stattfanden und die über den Finanzdienstleister Refinitiv verfügbar sind. KI-Modelle, die auf maschinellem Lernen beruhen In einem ersten Schritt haben die Forscher die Audio-Aufnahmen, in denen der CEO oder CFO zu hören ist, in eine graphische Darstellung umgesetzt, die die Schwankungen der Tonhöhe und die Lautstärke wiedergibt. Diesen Daten haben sie dann jeweils die tatsächliche Entwicklung der Unternehmensfinanzen im jeweils folgenden Geschäftsjahr gegenübergestellt. Damit die Analyse nicht zu komplex wurde, hat sich das FAACT-Team für eine Vereinfachung entschieden: Es wurde nur festgestellt, ob sich das Unternehmensergebnis im nächsten Jahr verbessert oder verschlechtert hat. Mit diesen beiden Datensätzen fütterten die Bochumer Wissenschaftler selbstentwickelte KI-Modelle, die auf Methoden des maschinellen Lernens beruhen. Auf der Grundlage der eingespeisten Informationen stellten die Algorithmen Regeln auf, wie sich die Stimmlage ändert, wenn ein Top-Manager übertrieben optimistische Vorhersagen macht. Ein solches Deep Learning läuft vollautomatisch ab. „Wir wissen also nicht, wie die Algorithmen zu ihren Schlussfolgerungen kommen“, räumt Reichmann ein. Die Forscher konnten jedoch feststellen, dass eine Stimmanalyse im statistischen Mittel messbar bessere Prognosen liefert als eine Auswertung der Bilanzen. Die Trefferquote liegt um bis zu 9 Prozent höher. Bessere Prognosen, höhere Renditen Die Forschungsergebnisse der Bochumer Wissenschaftler lassen sich unmittelbar in der Praxis nutzen. Sie erlauben es beispielsweise, die Arbeit von Analysten, Fondsmanagern und anderen Playern an den Finanzmärkten in erheblichem Maße zu verbessern. Hätten beispielsweise Analysten im Untersuchungszeitraum 2015 bis 2020 bei ihren Prognosen für das jeweils folgende Geschäftsjahr die Ergebnisse der Bochumer Stimmanalysen herangezogen, wäre die Erfolgsquote ihrer Vorhersagen um rund 40 Prozent gestiegen. „Investoren können mit unseren Forschungsergebnissen deutlich bessere Renditen erzielen.“ Doron Reichmann, Ruhr-Universität Bochum Nehmen wir an, eine Analystin könne Gewinne und Verluste im Durchschnitt um 10 Prozent besser prognostizieren als ihre Kollegen. Diese Expertin hätte ihre Quote auf 14 Prozent steigern können, wenn sie ihre Finanzanalysen mit einer Stimmanalyse kombiniert hätte. „Auch Investoren können mit unseren Forschungsergebnissen deutlich bessere Renditen erzielen“, versichert Reichmann. Die Bochumer Wissenschaftler haben Musterportfolios gebildet, um diese These zu überprüfen. Bei der Auswahl der Aktien wurden konsequent die Ergebnisse der Stimmanalysen angewandt. Die virtuellen Investments lieferten eine Überrendite von 8,8 Prozent. Dies ist keine Sensation, doch den wenigsten Fondsmanagern gelingt es dauerhaft, die Finanzmärkte zu schlagen. Institutionelle Investoren sind stark interessiert Das Interesse von institutionellen Investoren ist daher groß. „Es haben sich bereits mehrere Asset Manager und Anbieter von alternativen Investments bei uns gemeldet, um nähere Einzelheiten zu unserer Forschung zu erfahren“, berichtet Reichmann. Er und sein Team fänden es zwar sehr reizvoll, wenn sie ihre Erkenntnisse vermarkten würden, sei es mit der Entwicklung von Tools oder in Form von Dienstleistungen für Kunden aus dem Investmentbanking und dem Asset Management. „Doch wir sehen uns als Wissenschaftler und wollen uns darauf konzentrieren, unsere keineswegs vollkommene Methode weiter zu verbessern“, sagt Reichmann. Denn Potential zur Verbesserung gibt es durchaus. Noch sind die Bochumer Forscher nicht in der Lage, aus den Conference Calls die besonders kritischen Textpassagen herauszufiltern, in denen ein CFO wider besseres Wissen glatt die Unwahrheit sagt. Hier dürfte die Stimme besonders verräterisch sein. Ferner haben sich die Wissenschaftler bisher auf die Analyse von amerikanischen Unternehmen konzentriert, weil den USA die für maschinelles Lernen benötigten großen Datenmengen vorliegen. Die Datenverfügbarkeit ist für nicht-amerikanische Unternehmen oft deutlich schlechter. Eine weitere Schwäche des Modells besteht darin, dass die Prognosen in unruhigen Zeiten ungenauer werden. Ereignisse wie die Pandemie, der Ukraine-Krieg und das jüngste Bankenbeben lassen selbst die seriösesten Vorhersagen schnell zu Makulatur werden. „Wir verstehen unsere Arbeit als erste Schritte in wissenschaftliches Neuland. Dieses Feld ist bislang sehr rar bestellt“, sagt Reichmann. Info Die Untersuchung Wissenschaftler der Ruhr-Universität haben mehr als 8.000 Conference Calls US-amerikanischer Unternehmen ausgewertet. Die dort gemachten Gewinnprognosen wurden mit den tatsächlichen Ergebnissen im Folgejahr verglichen. Analysten können ihre Prognosen verbessern, wenn sie die herkömmliche Finanzanalyse mit einer Stimmanalyse kombinieren. Die Trefferquote steigt um rund 40 Prozent.

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