Im Rahmen meiner Unternehmenskooperationen werde ich immer wieder davon überrascht, mit welcher Kreativität Firmen versuchen, ihre Mitarbeitern „neue Strategien“, „Strukturveränderung“, Wertmanagement und bunte Scorecards visuell schmackhaft zu machen. Manche hängen große Poster in der Kantine aus, die in ihrer Unzulänglichkeit oft ziemlich unterhaltsam sind.
Kantinenposter von Unternehmensprojekten stellen nur sich selbst dar – aber nicht das Projekt, nicht den Willen zur Veränderung und schon gar nicht den Prozess des Umdenkens. Das ist firmeninterner Surrealismus. Möglich ist das nur, weil Unternehmen und Manager immer wieder in die gleichen Fallgruben stürzen.
Fallgrube 1: Die Balanced Scorecard verkommt zur Pose
Eine Ikone des modernen Performance-Managements wurde vor etwas mehr als 20 Jahren vorgestellt – die Balanced Scorecard. Mittlerweile haben sich viele Unternehmen von diesem Konzept, das Veränderungsprozesse steuerbar machen soll, schon längst wieder verabschiedet. Oft haben CFOs und Controller die Balanced Scorecard aber vor allem deshalb auf den Müllhaufen werfen, weil sie es als Dialoginstrument falsch angewandt haben. Die Balanced Scorecard selbst als Tool kann überhaupt nicht versagen.
Oft scheitern Balanced-Scorecard-Projekte daran, dass CFOs und ihre Controller damit zu schnell loslegen wollen. Bunte Powerpoint-Präsentationen werden erstellt, um den Mitarbeitern zu zeigen, dass eine gute Unternehmensentwicklung vom Zusammenspiel verschiedener Bereiche (F&E, Produktion, Logistik, Vertrieb…) und deren Konsequenzen für das finanzielle Ergebnis abhängt. Dieser Prozess setzt jedoch Kommunikation voraus. Doch manche CFOs und Controller trauen ihren Mitarbeitern nicht zu, irgendetwas von Strategie zu verstehen. Deshalb präsentieren sie ihnen lieber in bunten Bildern, woran sie gemessen werden und wie das dann von der Unternehmensleitung gemanagt wird.
Wer den Dialogprozess so anfängt, sollte sich nicht wundern, wenn die Einführung einer Balanced Scorecard misslingt. Die Kommunikation wird durch einen Repräsentationsprozess ersetzt, der auf dem Papier prima funktioniert. ROI, EVA, Kundenzufriedenheit und so weiter – die wichtigen Kennzahlen sind ja alle da. Nur: Eine Balanced Scorecard ist nicht dazu da, Returns on Investment oder andere Kennzahlen darzustellen, sondern dafür, Veränderungsprozesse anzustoßen, deren Erfolg sich häufig gar nicht richtig quantifizieren lässt. Es geht also nicht um Renditemessung auf Teufel komm raus, sondern um die Interaktion im Unternehmen rund um die Veränderungsziele, die man mit der Balanced Scorecard ins Visier nimmt.
Fallgrube 2: Das Management priorisiert die Ziele nicht
Die Hauptursache für viele gescheiterte Projekte: Es wird kaum diskutiert, was für das Unternehmen wirklich strategisch wichtig ist. Und genau das liegt nicht an der Balanced Scorecard, denn deren Konzept sieht eine klare Iteration vor: Zielsetzung, Maßnahmen, Aktivitäten, Meilensteine und erst zum Schluss die Kennzahlen. CFOs und Controller übersehen das gerne.
Die wichtigste Aufgabe der Geschäftsführung besteht jedoch darin, die strategische Herausforderung realitätsnah zu konkretisieren und in eine Zielsetzung zu verankern. Anschließend soll das mittlere Management erarbeiten, mit welchen Maßnahmen („Measures“) die Organisation sich (zuerst) auseinandersetzen soll. Konzeptionell sieht das Konzept der Balanced Scorecard vor, dass Maßnahmen mit konkreten Aktivitäten verbunden werden müssen. Und damit ergibt sich die entscheidende Frage von ganz allein: Welche Aktivitäten müssen gemäß der lenkenden Zielsetzung priorisiert werden? In der Praxis wird dieser Schritt oft übersehen. Viele Manager – nicht nur Controller – möchten lieber Maßstäbe definieren, woran andere sich messen lassen müssen, als selbst die relative Wichtigkeit verschiedener Aktivitäten zu definieren. Warum?
Jede Veränderung ist mit Risiko verbunden. Unsere Annahmen dessen, was dem Erfolg beisteuern wird, mögen falsch sein. So what? Viele Manager versuchen sich, diesem Risiko zu entziehen, indem sie selbst keine Hypothese aufstellen zu dem, was verändert oder beibehalten werden muss. Das ist ein klarer Fehler. Mit der Balanced Scorecard wollen wir ja gerade prüfen, welche Aktivitäten (un-)entbehrlich sind. Sicherlich kann man weder von sich selbst noch von seinen Mitarbeitern erwarten, dass alle immer im Voraus wissen, was verändert werden muss. Wenn dies so wäre, müssten die Veränderungen, die gerade nötig sind, ja logischerweise bereits vollzogen sein. Also drücken auch Sie klar ihre Meinung zu den Aktivitäten aus! Experimentieren Sie als Manager! Vergessen Sie die Leaderment-Rhetorik! Und machen Sie sich angreifbar!
Woran aber richtet sich meist das mittlere Management, um Meilensteine zu setzen und Ziele zu definieren? Nach der Hierarchie natürlich. Man schaut nach oben und wartet ab, ob das Teilprojekt abgenickt wird, anstatt die Aktivitätsziele im Dialog mit den eigenen Mitarbeitern zu definieren. Dabei sind doch die Mitarbeiter diejenigen, die nachher diese Meilensteine erreichen müssen. Verantwortung ohne Beteiligung funktioniert heute nicht mehr.
Fallgrube 3: Alles messen, was sich rührt
Viele Kennzahlen braucht es dafür eigentlich nicht. Klar sind diese wichtig für ein Balanced-Scorecard-Projekt, sofern mit ihnen die hypothetischen Kausalitätsbeziehungen geprüft werden, die im Dialogprozess entstanden sind. Darüber hinaus aber alles zu messen, was sich rührt (oder rühren sollte), ist nicht zielführend.
Im Fokus des Performance-Management sollten zwei Fragen stehen: Sichert das Erreichen eines Aktivitätsziels auch die Gewährleistung einer kritischen Maßnahme? Und unterstützt diese Maßnahme auch die eigentliche Zielsetzung des Unternehmens? Wenn ja, muss eigentlich nur noch gemessen werden, inwieweit die Vorgabe erfüllt worden ist und ob dies das Unternehmen seinem erklärten strategischen Ziel tatsächlich näher bringt. Die Wirklichkeit sieht leider in vielen Unternehmen anders aus. Dort ist der eigentliche Kern eines Balanced-Scorecard-Projekts nach wie vor das ewige „besser, größer, billiger“.
Fallgrube 4: Kostenstellenberichte sind keine Scorecards
Der Lackmustest eines jeden Veränderungsprozesses ist es, definieren zu können, wovon man sich mehr wünscht und wovon weniger. Das ist meiner Erfahrung nach auch das absolute Erfolgskriterium eines Balanced-Scorecard-Projekts. Kann ein Top-Mananagement diesen Trade-Off nicht leisten, könnte es sein, dass irgendjemand Scorecards mit Kostenstellenberichten verwechselt hat.
Das wäre fatal, dienen beide Darstellungen doch ganz unterschiedlichen Zwecken: Ein Kostenstellenbericht soll uns helfen, den Fokus festzuhalten – eine Scorecard, den Fokus zu verändern. Es geht darum, Hypothesen zu Kausalbeziehungen aufzustellen, entsprechend veränderte Aktivitäten durchzuführen und dann zu messen, ob diese Veränderung stimmt oder nicht. Mit der Scorecard wollen wir erkennen, wovon wir mehr beziehungsweise weniger haben beziehungsweise leisten sollen. Genau deshalb nennt man sie ja auch Balanced Scorecards.
Achten Sie bei ihrem Balanced-Scorecard-Projekt deshalb immer gut auf das „Haltbarkeitsdatum“. Eine Balanced Scorecard ist ein zeitlich begrenztes Veränderungsprojekt, kein Dauerzustand. Sie lebt von dem Impuls, der mit ihr ausgesendet wird. Ein Projekt, das ewig läuft, ist meist dadurch gekennzeichnet, dass keine Hypothesen mehr aufgestellt und getestet werden. Spätestens ab diesen Zeitpunkt mutiert die Scorecard zur Beilage des Kostenstellenberichts. Und Scorecards sind nicht dazu da, das laufende Berichtwesen mit Pop-Art zu ersetzen.
Info
Niels Dechow, PhD, ist Professor für Unternehmensrechnungslegung und Controlling an der European Business School (ebs). Für FINANCE bloggt er regelmäßig zu den neuesten Trends im Controlling. Alle Beiträge seines Blogs „Controlling 2020“ finden Sie hier.