Wohin gehen die Zinsen?

Die Experten sind sich weitgehend einig. Im Juni wird die Europäische Zentralbank (EZB) die Leitzinsen, die sie seit 2022 kräftig angehoben hat, erstmals wieder senken. Nahezu alle deutschen Großbanken erwarten eine Herabsetzung um 25 Basispunkte, der voraussichtlich rasch weitere Zinsschritte folgen dürften. Derzeit beträgt der Einlagensatz 4 Prozent, während der Hauptrefinanzierungssatz bei 4,5 Prozent liegt. Die ökonomischen Rahmenbedingungen für eine Senkung sind gegeben: Mit einer harten Geldpolitik gelang es der Notenbank, die Inflationsraten, die im Winter 2022/23 zeitweise bei rund 8 Prozent lagen, kräftig zu senken. Im März stiegen die Verbraucherpreise in der Eurozone im Jahresvergleich nur mehr um 2,4 Prozent, in Deutschland waren es sogar lediglich 2,2 Prozent. Damit ist das Inflationsziel der EZB von rund 2 Prozent annähernd erreicht. Zinsen: Inflation könnte wieder anziehen Allerdings besteht durchaus die Gefahr, dass die Inflation plötzlich wieder anzieht, wie das Beispiel USA zeigt, wo die Verbraucherpreise im März um 3,5 Prozent zulegten. Aus diesem Grund wird die Federal Reserve die geplanten Zinssenkungen voraussichtlich ein weiteres Mal aufschieben. Übermäßig steigende Löhne und Gehälter könnten auch in Europa die Inflation befeuern. „Wichtige Daten zur Lohnentwicklung in der Eurozone liegen Ende Mai vor“, erläutert Karsten Gross, Head of Corporate Loans & Acquisition Finance bei der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) in Stuttgart. Diese Zahlen wird sich die Zentralbank genau anschauen, bevor sie den ersten Zinsschritt beschließt. Info KreditmarktDer Markt für Unternehmenskredite hat eine Achterbahnfahrt hinter sich. 2022 war das Kreditvolumen aufgrund von krisenbedingten Sonderentwicklungen angeschwollen. 2023 hat sich die Lage normalisiert, so dass das Kreditvolumen unvermeidlich kräftig schrumpfen musste. Jetzt sieht die KfW Signale für einen neuen Aufschwung. Wie unsicher die Lage ist, zeigen die rasch wechselnden Einschätzungen der Kapitalmärkte. „Ende 2023 waren im Markt Zinssenkungen von 160 Basispunkten für das laufende Jahr eingepreist. Ende des ersten Quartals waren es hingegen nur mehr 90 Basispunkte“, sagt Hauke Burkhardt, Leiter des Firmenkundengeschäfts bei der Deutschen Bank. Das Institut ist allerdings etwas optimistischer als die Kapitalmärkte und rechnet bis Ende 2024 mit weiteren Zinssenkungen von insgesamt 100 Basispunkten. „Derzeit gehen wir davon aus, dass die Notenbank 2025 die Leitzinsen abermals um insgesamt 75 Basispunkte herabsetzen wird, so dass der Einlagenzinssatz Ende des nächsten Jahres bei 2 Prozent liegen dürfte“, sagt Burkhardt. „Wichtige Daten zur Lohnentwicklung in der Eurozone liegen Ende Mai vor.“ Karsten Gross, LBBW Ebenso wie die Deutsche Bank erwartet die LBBW bis Ende 2024 weitere Zinsschritte; der Einlagenzins würde dann bei 3 Prozent liegen. Das Research der Commerzbank prognostiziert aktuell, dass die EZB den Einlagenzins bis zum Frühjahr 2025 auf 2,5 Prozent herabsetzt. Die DZ Bank sieht diesen Zinssatz in zwölf Monaten bei 3,15 Prozent. Eine wesentliche Voraussetzung all dieser Prognosen ist freilich, dass Tariflöhne und Verbraucherpreise nicht plötzlich in die Höhe schießen. Die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt, wie schwierig Zinsprognosen letztlich sind. Anzeichen für eine Wiederbelebung Die Unternehmen dürfen jedoch nicht hoffen, dass die Zinsen für Firmenkredite ebenso rasch sinken, wie die Leitzinsen fallen. Der Basiszinssatz ist zwar eng an die voraussichtlich kräftig sinkenden Leitzinsen gekoppelt, doch die Risikoprämien nehmen aufgrund der großen wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten zu. „Außerdem wurden aufgrund der geringen Kreditnachfrage im vergangenen Jahr die Leitzinserhöhungen nicht im kompletten Umfang an Kreditnehmer weitergegeben“, sagt Firmenkundenchef Burkhardt von der Deutschen Bank. Commerzbank-Firmenkundenbankerin Sabrina Kensy. Foto: Pavel Becker/Commerzbank „Eine pauschale Aussage, wie sehr sich Zinssenkungen auf die Konditionen einzelner Firmenkredite auswirken, ist nicht möglich. Denn hier hängen die Zinsen von Faktoren wie der Bonität der einzelnen Unternehmen und branchenspezifischen Risiken ab, die unabhängig von der Entwicklung der Leitzinsen sind“, ergänzt Sabrina Kensy, Bereichsvorständin Firmenkunden Ost und Mitte bei der Commerzbank. Obschon das Zinsniveau derzeit noch recht hoch ist, zeigt der Kreditmarkt Anzeichen für eine Wiederbelebung. Der starke Rückgang des vergangenen Jahres scheint gebremst. Im ersten Quartal 2024 ging das Kreditvolumen im Geschäft mit Unternehmen und Selbständigen laut KfW nur mehr um 3 Prozent zurück. Die Frankfurter Förderbank prognostiziert, dass das Volumen ab dem Sommer wieder zunehmen könnte. Die Deutsche Bank sieht vier Faktoren, die das Wachstum auf den Kreditmärkten antreiben werden: Im ersten Quartal 2024 hat die Nachfrage nach Investitionskrediten wieder zugenommen; auf den M&A-Märkten zieht die Aktivität ebenfalls an. Auch bei Immobilien lässt sich eine leichte Belebung beobachten. Info Risikoprämien bei AnleihenWie liquide der Bondmarkt derzeit ist, lässt sich an der Entwicklung der Spreads für Unternehmensanleihen ablesen. Zu Beginn des Jahres 2024 haben sich die Risikoaufschläge laut der Commerzbank aufgrund einer hohen Emissionstätigkeit ausgeweitet. Doch ab Mitte Januar haben sich die Spreads bei Euro-denominierten Bonds mit Investmentgrade im Durchschnitt um 20 Basispunkte eingeengt. Der wichtigste Treiber ist jedoch die nachhaltige Transformation. „In den kommenden Jahren müssen insbesondere mittelständische Unternehmen massiv in die Energiewende, die Dekarbonisierung der Produktion, eine sichere Versorgung mit kritischen Rohstoffen und schließlich den Aufbau einer Kreislaufwirtschaft investieren“, sagt Firmenkundenchef Burkhardt. Diese Faktoren wirken auch auf dem Anleihemarkt, wo sie derzeit für einen ungewöhnlich starken Aufschwung verantwortlich sind. Die LBBW hat im ersten Quartal 2024 bei Euro-denominierten Emissionen exakt 201 Transaktionen mit einem Volumen von insgesamt 129 Milliarden Euro ermittelt. Laut der Commerzbank war das Emissionsvolumen bei Bonds, die als Investmentgrade bewertet werden, im ersten Quartal 2024 um rund 40 Prozent höher als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Und auch das zweite Quartal ging gut los: Anfang April platzierte die Automobilholding Porsche SE ungeratete Anleihen über 1,6 Milliarden Euro, was einem neuen Rekord entspricht. Längere Laufzeiten für Bonds Emittenten, die eine gute Bonität aufweisen, können auf den Bondmärkten zudem wieder längere Laufzeiten durchsetzen. In den vergangenen beiden Jahren lagen die Fristen bei Neu-Emissionen oft bei zwei bis drei Jahren. Dies hat sich gründlich geändert. „Im ersten Quartal betrugen die Laufzeiten im Mittel etwa 7,5 Jahre. Bei Emittenten mit sehr guter Bonität lag der Durchschnittswert sogar noch höher“, sagt Zinsexperte Gross von der LBBW. Info Sustainable BondsNachhaltige Unternehmensanleihen, zu denen Green Bonds, Social Bonds und Sustainability Bonds gehören, setzen ihren Siegeszug fort. Der Anteil am Gesamtmarkt für Corporate Bonds ist seit 2016 weltweit von 16 auf 20 Prozent gestiegen. 2024 könnte das Emissionsvolumen laut der DZ Bank erstmals die Marke von 1 Billion US-Dollar erreichen. Ungeachtet aller geopolitischen und ökonomischen Risiken ist die Nachfrage an den Bondmärkten bei allen Laufzeiten derzeit groß. Beispielhaft zeigt dies der Bond, den Siemens im Februar begeben hat: Die Anleihe mit einem Volumen von insgesamt 5 Milliarden Euro besteht aus vier Tranchen mit Laufzeiten von fünf bis 20 Jahren. „Auch die längste Laufzeit stieß bei den Anlegern auf lebhaftes Interesse“, sagt Friedrich Luithlen, Leiter Debt Capital Markets bei der DZ Bank in Frankfurt am Main. Gezeichnet wurde die Tranche mit der ungewöhnlichen Frist von zwei Jahrzehnten vor allem von Versicherern und Pensionskassen. Lange Laufzeiten erhöhen nicht nur die Finanzierungssicherheit. Sie sind derzeit auch angesichts der ausgeprägt inversen Zinsstrukturkurve zu günstigen Konditionen möglich: Die Zinsen für Bundesanleihen mit zehnjähriger Laufzeit betragen aktuell lediglich 2,4 Prozent, sind also rund 2 Prozentpunkte niedriger als die Leitzinsen. „Der Grund für die inverse Zinsstrukturkurve besteht in der Erwartung fallender Zinsen in einem schwächeren gesamtwirtschaftlichen Umfeld“, erläutert Zinsexperte Luithlen. „Laut unseren Prognosen werden die Zinsen für zehnjährige Bundesanleihen bis Mitte 2024 auf 2 Prozent sinken.“ Friedrich Luithlen, DZ Bank Da die EZB kein Quantitative Easing mehr betreibe, werde der Zinssatz am langen Ende wieder ohne direkten geldpolitischen Einfluss vom Markt bestimmt. Angesichts der Tatsache, dass die Nachfrage nach Bonds über alle Laufzeiten stabil zunehme, dürften auch die Erwartungen weiter steigen, dass die Zinsen auch am langen Ende weiter fallen. „Laut unseren Prognosen werden die Zinsen für zehnjährige Bundesanleihen bis Mitte 2024 auf 2 Prozent sinken“, sagt Luithlen. Freilich sind solche Vorhersagen stets mit großen Unsicherheiten behaftet. Viele Emittenten wollen sich lieber nicht darauf verlassen, dass die bereits verhältnismäßig niedrigen Zinsen noch weiter sinken – es könnte auch das genaue Gegenteil eintreten. Diese Unternehmen gehen bereits jetzt an den Anleihemarkt statt wie ursprünglich geplant vielleicht erst in drei oder fünf Monaten. „Wir können beobachten, dass viele Emittenten die inverse Zinsstrukturkurve und das stabile Marktumfeld nutzen, um eine Refinanzierung vorzuziehen“, sagt Sabrina Kensy von der Commerzbank. Dies lasse sich auch bei Neu-Emissionen beobachten. Wenn Anleiheplatzierungen aber in großem Stil vorgezogen werden, weil die Unternehmen eine Verschlechterung der Konditionen befürchten, dann ist ein Rückgang des Volumens im weiteren Verlauf des Jahres unvermeidlich. Bond-Experte Luithlen von der DZ Bank prognostiziert daher, dass „die Emissionstätigkeit auch bei einem weiterhin guten Marktumfeld im zweiten Halbjahr merklich rückläufig sein wird“.

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