Dräger-CFO Gert-Hartwig Lescow: „Wir fahren auf Sicht“

Herr Lescow, im ersten Quartal dieses Jahres hat sich der Auftragseingang mit 1,4 Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Wann hatten Sie das erste Mal den Gedanken, dass mit dem Coronavirus eine Nachfragewelle auf Drägerwerk als Medizin- und Sicherheitstechniker zurollt?Das war im Januar, als in China über eine Häufung der Infektionen berichtet wurde. Wir hatten in der Vergangenheit mit Krankheiten wie Sars auch schon eine kurzfristig erhöhte Nachfrage. Dass Corona alles bisher Bekannte in den Schatten stellen würde, habe ich damals aber nicht erwartet. Ende Februar spürten wir, wie die Nachfrage massiv anzog, und haben daraufhin Maßnahmen ergriffen, um sie zu bedienen. Trotzdem übersteigt die Nachfrage bei weitem das, was wir liefern können. Für einen CFO ist eine anziehende Nachfrage eigentlich immer willkommen – aber in der Heftigkeit und Unvorhersehbarkeit wie jetzt enorm schwierig. Wie musste sich die Arbeit in Ihrer Finanzabteilung ändern?Wir müssen jetzt sehr schnell Entscheidungen treffen, die nicht nur finanzielle, sondern auch humanitäre Folgen haben. Wenn es um Menschenleben geht, wird es immer äußerst schwierig. Zum einen haben wir Prozesse vereinfacht und arbeiten stärker top-down als zuvor. Im Controlling planen wir jetzt mit verschiedenen Szenarien, um besser vorbereitet zu sein. Im Treasury haben wir die Notfallpläne aus der Schublade geholt und die Liquiditätsplanung granularer aufgestellt: Statt wie bisher auf Jahressicht planen wir auf Monatsbasis, um den Working-Capital-Bedarf genauer zu ermitteln. Dräger-CFO Lescow muss Lieferkette stabil halten Die Liquiditätssicherung spielt für das Management der Lieferkette eine wichtige Rolle. Welche Folgen hat Corona für Ihre Supply Chain Finance?Tatsächlich ist die Stabilität der Lieferkette sehr wichtig, bei der Herstellung eines Beatmungsgeräts etwa sind 120 Lieferanten eingebunden. Wir sind auch bereit, für unsere Lieferanten in die Bresche zu springen, wenn sie Liquiditätsprobleme haben. Dafür haben wir uns schon mit unseren Kernbanken abgestimmt, deren Einsatz war bis jetzt aber noch nicht notwendig. Für unsere eigene Liquiditätssicherung haben wir gerade bei den Großaufträgen die Konditionen genau geprüft und dort, wo es ging, Zahlungsziele verkürzt oder Anzahlungen vereinbart. Sie haben ihre Liquidität vor kurzem auch über eine Kapitalerhöhung aufgepolstert – einen Teil der eingenommenen 76,5 Millionen Euro wollen Sie nutzen, um der enorm hohen Nachfrage Herr zu werden. Wird das reichen? Aktuell ja. Wir haben außerdem noch über 300 Millionen Euro an bestehenden Kreditlinien, die uns noch weitestgehend zur Verfügung stehen und uns Flexibilität ermöglichen. Aber natürlich ist es ein Fahren auf Sicht. FINANCE-Köpfe Gert-Hartwig Lescow, Drägerwerk AG & Co. KGaA Gert-Hartwig Lescow beginnt seine berufliche Karriere 1995 als Berater bei McKinsey. 2002 wechselt er zum Mobilfunkanbieter Mobilcom und übernimmt dort die Leitung der Finanzabteilung. Nachdem Lescow anschließend knapp zwei Jahre beim Technologiekonzern Voith im Bereich der Unternehmensentwicklung tätig ist, wird er im April 2008 als Nachfolger des scheidenden CFOs Hans-Oskar Sulzer Finanzchef des Medizintechnikherstellers Drägerwerke. zum Profil Sie haben mit der Kapitalerhöhung auch bestehende Genussscheine gekündigt. Warum haben Sie sich ausgerechnet jetzt dafür entschieden?Generell waren die Genussscheine für uns nicht mehr so attraktiv. Bei ihrer Ausgabe in den achtziger und neunziger Jahren wurden sie noch als Eigenkapital bilanziert. Mit der Einführung von IFRS haben sie diesen Vorteil aber verloren. 2012 haben wir rund 40 Prozent unserer Genussscheine im Rahmen einer Reverse Tender Offer vom Markt genommen, rund 800.000 Genussscheine verblieben danach noch. Jetzt war die Gelegenheit wieder günstig, um unsere Kapitalstruktur zu verbessern. Zum einen hängt die Höhe der Rückzahlung vom Durchschnittskurs der Vorzugsaktien in den drei Monaten vor der Kündigung ab – und da unser Aktienkurs zuletzt so stark gestiegen ist, mussten wir hier schnell handeln. Zum anderen brauchen wir die Sicherheit, dass wir die Genussscheine bis 2023 zurückzahlen können. Die aktuelle Geschäftsentwicklung lässt dies zu. Dräger musste vor Kurzem noch sparen Sie erwarten, dass Sie 2020 das geplante Umsatz- und Ergebnisniveau „deutlich“ übertreffen werden. In den vergangenen Jahren hatte Drägerwerk die Investoren enttäuscht, weil sich Umsatz und vor allem Gewinn nicht wie erhofft entwickelten. 2019 haben Sie sogar Sparmaßnahmen und Restrukturierungen eingeleitet. Nun hat sich die Lage komplett gedreht. Wie nachhaltig ist die positive Geschäftsentwicklung?Zunächst einmal waren die Maßnahmen unabhängig von Corona richtig. Die Restrukturierung der Medizintechnik hilft uns zum Teil jetzt, den Nachfrageboom zu stemmen. Mit den neuen Business Units sind wir besser aufgestellt, arbeiten fokussierter, agiler und auch kundenorientierter. Und auch nach Corona wird uns das helfen, uns so gut wie möglich an die neue Situation zu adaptieren und unsere Profitabilität weiter zu verbessern. Außerdem glaube ich, dass die Nachfrage auch über 2020 hinaus stärker bleiben wird, weil es im Zuge der Aufarbeitung der Pandemie künftig in höherem Maße zur Krisenbevorratung kommen könnte. FINANCE-Themenseite Coronavirus Finanzierungen, Märkte, M&A-Deals, Lieferketten – so trifft das Coronavirus die Corporate-Finance-Welt. Mehr zum Thema Wie verhindern Sie Überkapazitäten, die Sie später belasten könnten?Das ist in der Tat sehr schwierig, denn Prognosen sind aktuell nicht möglich. Wenn es um die Einstellung neuer Mitarbeiter oder die Anschaffung neuer Maschinen geht, sind wir so umsichtig, wie es geht. Außerdem arbeiten wir auch mit temporären Vereinbarungen. Sie sind Drägerwerk schon lange treu: 2008 wurden Sie CFO bei dem Familienunternehmen. Wie sehr hilft Ihnen Ihre Erfahrung jetzt? Es ist jetzt natürlich sehr hilfreich, dass ich mit den Prozessen so gut vertraut bin und die Geschäftsführer sowie verantwortliche Personen in den jeweiligen Ländern so gut kenne – das gilt umgekehrt übrigens genauso. Das erleichtert es mir, schneller Entscheidungen zu treffen und einzuschätzen, wo wirklich Hilfe gebraucht wird. julia.schmitt[at]finance-magazin.de Info Erfahren Sie mehr über den Dräger-CFO auf dem FINANCE-Köpfe-Profil von Gert-Hartwig Lescow.

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