Virtuelle Hauptversammlung: Notlösung oder Zukunftsmodell?

Hitzige Debatten, Kampfabstimmungen bis kurz vor Mitternacht, Schlachten am Würstchen-Buffet: Hauptversammlungen lieferten in den vergangenen Jahren viele Anekdoten. Die HV-Saison 2020 war dagegen anders: Wegen der Coronakrise mussten viele Konzerne ihre Aktionärstreffen online abhalten. Eine Gesetzesänderung im März 2020 schuf flugs noch die Möglichkeit für rein virtuelle Meetings. Für die Unternehmen brachte das neue Herausforderungen: Markus Warncke, CFO bei dem Keramikwarenhersteller Villeroy & Boch, wollte eigentlich am 27. März 2020 das Aktionärstreffen abhalten, doch zwei Wochen zuvor untersagten die Behörden die Präsenzveranstaltung. Das Traditionsunternehmen aus dem Saarland bereitete daher für Herbst ein virtuelles Event vor. Das erforderte einen „wesentlich höheren Anteil an technischen Themen, verbunden mit entsprechendem Organisations- und Testaufwand“, berichtet Warncke. „Durch die Technikabhängigkeit waren zudem neue Notfallkonzepte notwendig.“ Im Umgang mit dem neuen Format galt zunächst vielfach die Devise: keine Experimente. „Um Anfechtungsrisiken zu vermeiden, waren die ersten virtuellen Veranstaltungen sehr darauf ausgerichtet, alle rechtlichen Anforderungen genau einzuhalten“, berichtet Franz-Josef Leven, stellvertretender Geschäftsführer des Deutschen Aktieninstituts. „Dadurch gerieten sie sehr formal.“ Virtuelle HV: Hauptsache rechtssicher So auch bei Osram: Kathrin Dahnke, seit April 2020 CFO bei der Osram Licht AG, hielt im November 2020 ihr erstes virtuelles Aktionärstreffen ab, es war gleich eines mit historischer Bedeutung: Auf der außerordentlichen HV mussten die Aktionäre nach der Osram-Übernahme durch den Sensorhersteller AMS einem Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag zustimmen. „Rechtssicherheit hatte oberste Priorität. Wir haben daher jede Frage beantwortet, auch wenn es viele Redundanzen gab“, sagt die CFO. Experten hatten wegen der besonderen Bedeutung der Beschlüsse zu diesem Vorgehen geraten. „Vom Unterhaltungswert her hat das aber niemandem Spaß gemacht“, räumt Dahnke im Nachhinein ein. Nach dem Pflichtprogramm 2020 geht es für viele Unternehmen in diesem Jahr deshalb um die Kür: Die virtuelle HV soll stärker mit Leben gefüllt werden. Gerade Kleinaktionäre bemängeln die fehlende Interaktion auf der virtuellen Hauptversammlung. Zwar können sie vorab Fragen einreichen, doch Nachfragen sind im virtuellen Standard-Setting nicht vorgesehen. „Institutionellen und privaten Aktionärsvertretern fehlt die HV als Bühne, um sich zu positionieren“, sagt Leven vom Aktieninstitut. In diesem Jahr sollen die Veranstaltungen daher lebendiger werden. Das möchte auch der Wohnimmobilienkonzern Vonovia schaffen. Im vergangenen Jahr sei es gelungen, „auch online ein guter Gastgeber zu sein“, sagt CFO Helene von Roeder. Am virtuellen Format nahmen dreimal so viele Aktionäre teil wie an der HV im Vorjahr. Die Vorbereitung sei inzwischen routinierter als bei der ersten Auflage, sagt die Finanzchefin. „Dieses Jahr arbeiten wir daran, uns weiter zu verbessern.“ Das GesetzEnde März 2020 brachte das Covid-19-Gesetz die Möglichkeit, dass Unternehmen mit den Rechtsformen Aktiengesellschaft, KGaA oder SE ihre HV auch ohne physische Präsenz umsetzen können. Das Gesetz wurde inzwischen bis zum 31. Dezember 2021 verlängert. Rechtliche Änderungen bei virtueller HV Die Bedingungen der virtuellen Hauptversammlung haben sich allerdings noch einmal geändert: Um die Position der Aktionäre zu stärken, greifen seit dem 28. Februar 2021 einige Änderungen, die für die Gesellschaften wesentliche Folgen haben können. Die erste große Neuerung: Aus der Fragemöglichkeit für Aktionäre wurde ein Fragerecht. „Der Vorstand kann nicht mehr entscheiden, ob er eine Frage beantwortet.“ Wolfgang Groß, Hengeler Mueller Die neue Formulierung bietet Zündstoff: „Bei einer Fragemöglichkeit entscheidet der Vorstand nach freiem pflichtgemäßen Ermessen darüber, ob und wie er eine Frage beantwortet“, erklärt Kapitalmarktrechtler Wolfgang Groß, Partner bei Hengeler Mueller. Bei einem Fragerecht sieht das anders aus: „Der Vorstand kann nicht mehr entscheiden, ob er eine Frage beantwortet. Gestellte Fragen muss er richtig und vollständig beantworten.“ Möglich sei es allerdings, gleichlautende Fragen zusammenzufassen. Die zweite große Neuerung hat es ebenfalls in sich: Bislang konnten Aktionäre ihre Fragen bis zwei Tage vor der HV einreichen, nun wurde die Frist und damit die Vorbereitungszeit für die Gesellschaften auf einen Tag verkürzt. „Das ist in der Praxis eine große Herausforderung“, sagt Jurist Groß. Denn viele Unternehmen haben 2020 im virtuellen Format außergewöhnlich viele Antworten vorbereiten müssen. „Es gab oftmals sowohl mehr Fragesteller als auch mehr gestellte Fragen als in der Präsenz-HV.“ Bei der Beantwortung muss die Investor-Relations-Abteilung nun schneller werden. Aktieninstitut-Experte Leven kritisiert die kürzere Frist zur Frageeinreichung: „Für die Unternehmen bedeutet das großen Aufwand, aber der Mehrwert für die Aktionäre ist aus meiner Sicht sehr überschaubar.“ Nachfragemöglichkeit auf Hauptversammlung fehlt Einen der größten Kritikpunkte von Aktionärsvertretern lässt dagegen auch die seit Ende Februar geltende Fassung offen: Nachfragen zu den Vorträgen des Vorstands oder Anschlussfragen zu Antworten sind nach wie vor nicht vorgesehen. Einzige Möglichkeit: Das Unternehmen kann dies freiwillig anbieten. Osram-CFO Dahnke hat sich für die diesjährige virtuelle HV allerdings gegen diese Option entschieden: „Weder die Techniker noch die Juristen konnten uns im Vorfeld garantieren, dass wir Nachfragen sicher abbilden können“, begründet sie die Entscheidung. Um Rechtssicherheit zu gewähren, habe man daher auf Nachfrageoptionen verzichtet. Auf alle Zeiten vom Tisch sind diese jedoch nicht: „Wenn eine Lösung kommt, die technisch und juristisch sicher ist, kann ich mir das für die Zukunft vorstellen.“ Franz-Josef Leven vom Aktieninstitut sieht den Wunsch der Aktionäre nach einer Nachfragemöglichkeit auf virtuellen Aktionärstreffen. Allerdings dürfe dies nicht zu Missbrauch führen, mahnt er: „Es kann nicht gewollt sein, dass ein Aktionär beispielsweise durch Hunderte Nachfragen die gesamte Versammlung aufhält.“ Es müsse ein rechtlicher Rahmen zum Umgang mit Nachfragen geschaffen werden. Für Leven ist das virtuelle Aktionärstreffen entwicklungsfähig: Es nehmen zwar häufig deutlich mehr Aktionäre teil als an den physischen Treffen, doch der Austausch leidet. „Technisch war die virtuelle HV-Saison 2020 gut, aber es fehlte vielen die Interaktion“, lautet sein Fazit. Die ÄnderungenSeit Ende Februar 2021 gelten einige Änderungen gegenüber dem ursprünglichen Gesetz: Aus der „Fragemöglichkeit“ für Aktionäre wurde ein „Fragerecht“. Der Vorstand kann nur noch darüber entscheiden, wie (und nicht mehr ob) er eine Frage der Aktionäre beantwortet. Fragen müssen bis spätestens einen Tag vor der Versammlung eingereicht werden, zuvor betrug die Frist zwei Tage. Fernsehen als Vorbild für virtuelle HV Vonovia-CFO Helene von Roeder hat sich in der Vorbereitung an Fernsehformaten orientiert, um die virtuelle HV möglichst ansprechend zu gestalten. „Wir wollten nicht einfach eine Präsenzveranstaltung in die digitale Welt transferieren, sondern ein komplett neues Format ausprobieren – unterhaltsam, lebendig und natürlich juristisch einwandfrei“, sagt sie. FINANCE-Köpfe Helene von Roeder, Vonovia SE Nach ihren Studien in München und Cambridge beginnt die Astrophysikerin Helene von Roeder ihre Karriere 1995 im Risikocontrolling bei der Deutschen Bank in London. 2000 wechselt sie als Director zur Schweizer Bank UBS, ehe sie 2002 zum Executive Director aufsteigt. Nach einer kurzen Station beim Finanzdienstleister Merrill Lynch geht von Roeder 2004 zu Morgan Stanley. Nach verschiedenen Führungspositionen beruft sie die US-Bank 2013 in den Vorstand. 2014 wechselt von Roeder zur Credit Suisse und leitet für die Schweizer Großbank das Deutschlandgeschäft. Im Mai 2018 übernimmt die Managerin das Finanzressort beim Immobilienkonzern Vonovia, nachdem der bisherige CFO Stefan Kirsten das Unternehmen verlassen hat. zum Profil Die Stakeholder hat Vonovia über Statements im Videoformat eingebunden. Übertragen wurde die virtuelle HV aus einem eigens installierten Studio, zudem wurden die Beiträge in Gebärdensprache übersetzt. Den direkten Austausch mit den Anteilseignern kann allerdings selbst die beste Vorbereitung nicht ersetzen: „Spricht man lediglich in eine Kamera, ist die Atmosphäre deutlich steriler“, findet von Roeder. Osram-CFO Dahnke und ihr Investor-Relations-Team haben sich auch bei anderen Unternehmen umgehört, um sich Tricks und Kniffe zur Auflockerung der virtuellen Versammlungen abzuschauen: Fragen von einem Sprecher vorlesen lassen, Videomaterial einbinden, Grußbotschaften von Aktionärsvertretern abspielen. Und doch: „Vieles, was in einer Präsenzveranstaltung spürbar ist, fehlt im virtuellen Raum“, sagt Dahnke. „Wenn Aktionäre eine Entscheidung unterstützen, wenn es Beifall gibt, dann ziehen da auch die Mitarbeiter viel Positives heraus. Dieses direkte Feedback ist nicht zu ersetzen.“ „Vieles, was in einer Präsenzveranstaltung spürbar ist, fehlt im virtuellen Raum.“ Kathrin Dahnke, CFO, Osram CFOs vermissen Feedback der Aktionäre Markus Warnckes Fazit nach den ersten virtuellen HV-Erfahrungen lautet: „Grundsätzlich: Das Format funktioniert und hat Potential!“ So sei die Veranstaltung gut planbar, beim Beantworten von Fragen sei eine höhere Qualität realisierbar, da die Antworten vorher vorbereitet werden können. Allerdings vermisst der Villeroy-&-Boch-CFO die direkte Interaktion mit den Anteilseignern und deren Rückmeldung: „Es macht keinen Spaß, mehrere Stunden lang nur in eine Kamera zu sprechen, ohne direkte Feedback-Möglichkeit der Teilnehmer“, sagt er. Auch wenn in manchen Belangen noch Raum für Verbesserungen ist – das Format der virtuellen Hauptversammlung hat funktioniert und bringt sogar manchen Vorteil. Hätte es das Zeug zur Dauerlösung? Osram-Finanzchefin Dahnke wünscht sich, nach der Corona-Pandemie die Wahl zwischen einer Präsenz-HV und einer virtuellen HV zu haben. „Die Digitalisierung wurde durch Corona erzwungen, dennoch ist es ein wichtiger Schritt. Wir nähern uns einer moderneren Version der HV“, findet sie. Helene von Roeder gefällt der Gedanke, virtuelle und physische Elemente der HV zu verbinden. So könnten Aktionäre ohne Reiseaufwand teilnehmen – allerdings müsste dann auch digital „eine angemessene Beteiligung“ möglich sein. Auch Markus Warncke wünscht sich perspektivisch eine Wahl zwischen physischer und virtueller Veranstaltung. Hybride Events sieht er allerdings kritisch, denn: „Hybride Veranstaltungen bedeuten doppelten Kostenaufwand.“ FINANCE-Köpfe Dr. Markus Warncke, Villeroy & Boch AG Nach seinem Studium steigt Markus Warncke 1996 bei Daimler-Benz ein, wo er zunächst als Prüfungsleiter und später als Teamleiter in der Konzernrevision tätig ist. 2001 wechselt er zu Villeroy & Boch, wo er sich in den folgenden Jahren über mehrere Führungspositionen im Finanzbereich zum CFO hocharbeitet. Zunächst ist er für die Bereiche Konzernrevision und M&A zuständig, anschließend ist er bis 2007 mit Dienstsitz in Utrecht (Niederlande) verantwortlich für Finanzen und Administration im Geschäftsfeld Wellness und Armaturen. In den folgenden Jahren ist er nacheinander als Leiter Konzern-Treasury, Group Financial Controller und schließlich Leiter Finanzen tätig, bis er zum CFO berufen wird. Seit Januar 2015 verantwortet er die Ressorts Controlling, Finanzen, Steuern, IT, Einkauf, Immobilien und Revision bei Villeroy & Boch. zum Profil Den Rahmen für eine künftige Wahlmöglichkeit für virtuelle HVs müsste der Gesetzgeber erst noch schaffen. Die aktuelle Gesetzgebung zur virtuellen HV läuft am Jahresende aus – und im September sind Wahlen. Manche Beobachter fürchten bereits, dass die Zeit eng werden könnte, angesichts der dann noch anstehenden Regierungsbildung bis zum Jahresende eine durchdachte Neuregelung zu finden. Alternativ könnte die geltende Regelung vielleicht doch noch einmal verlängert werden, um dann mit mehr zeitlichem Vorlauf eine dauerhafte Lösung vorzubereiten. Denn künftig auf die virtuelle HV wieder komplett zu verzichten hält Kapitalmarktrechtler Groß für den falschen Weg. „In diesem Bereich hat Corona etwas angestoßen, das man ohnehin hätte angehen sollen“, findet er. Seine Wunschvorstellung: eine virtuelle HV mit einer rechtssicher ausgestalteten Regelung für Nachfragen.

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