Mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für die Demokratie sowie den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt trat Gregor Gysi (76) bei der Structured FINANCE auf: „Ich freue mich, wenn Sie die Wirtschaft so stärken, dass alle etwas davon haben“, gab er den versammelten Finanzverantwortlichen mit auf den Weg.
Konkret mahnte der Linken-Politiker an, dass die Managerinnen und Manager das Wirtschaftsleben insgesamt im Blick behalten müssten. Selbst wenn sie für Konzerne und große Mittelständler tätig seien, müsse ihnen klar sein: Auch diese Unternehmen seien auf Selbständige, kleine Gewerbebetriebe und Dienstleister angewiesen; diese müssten ebenfalls auf Finanzierungen Zugriff haben und bräuchten in diesen Dingen eine gute Beratung. Denn „unsere Gesellschaft braucht die Mitte“, so der Bundestagsabgeordnete; dafür setze sich seine Partei ein.
Die Widersprüche lassen sich nicht kitten
Eine der größten Herausforderungen für die kommende Legislaturperiode sah der 76-Jährige im Minus bei Reallöhnen und -renten, das sich seit 2020 Jahr für Jahr fortgesetzt habe – auch 2024 rechne er damit. Dem stehe ein Zugewinn an Vermögen bei den Reichen gegenüber, und das führe zu „Widersprüchen, die kriegst Du nicht mehr gekittet“, warnte Gysi.
Auf internationaler Ebene hob der langjährige Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag drei Problemfelder hervor: Den Ukraine-Krieg werde Donald Trump als zukünftiger US-Präsident beenden wollen, ja ein Ende erzwingen wollen. Außerdem müssten sich die politisch Verantwortlichen den Ursachen der Flüchtlingskrise und den Folgen des Klimawandels verstärkt annehmen.
Seine erneute Kandidatur für den Bundestag – als einer der drei Protagonisten im „Projekt Silberlocke“ – ist für Gysi eine politische Mission: „Wir brauchen im Bundestag eine breitere Meinung, wir brauchen linke Argumente“, begründete er den Versuch, erneut das Direktmandat in seinem Wahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick zu gewinnen. Gelingt das auch seinen Mitstreitern Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch in ihren Wahlkreisen, könnte die Linke die Fünf-Prozent-Hürde umgehen und wieder in den Bundestag einziehen.
Allerdings komme die Wahl am 23. Februar für seine Partei sehr früh, räumte Gysi ein. Ein späterer Termin wäre nach der Abspaltung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) besser gewesen.
Auch Merz wird die Schuldenbremse umgehen
Die neue Bundesregierung wird die Schuldenbremse umgehen, zeigte sich Gysi überzeugt. Auch wenn der Bundeskanzler Friedrich Merz heißen sollte. Gysi hält das für richtig, zum Beispiel für Zukunftsinvestitionen im Bildungssystem, um Chancengleichheit herzustellen. Aber er stellte auch klar, dass die Regierung „niemals Schulden für laufende Kosten“ machen sollte.
Tatsächlich lässt es die Finanzlage der Bundesrepublik eher zu, neue Schulden aufzunehmen, mit einer Schuldenquote von unter 65 Prozent. Jedenfalls verglichen mit Frankreich, wo die Staatsverschuldung bei über 3,2 Billionen Euro liegt und die Schuldenquote 110 Prozent übersteigt.
Das Ende der alten Bundesregierung Anfang November fand Gysi „schlimm, weil eine Drei-Parteien-Koalition nicht funktioniert hat“. Sie habe wie ein zerstrittener Haufen gewirkt, und Bundeskanzler Olaf Scholz habe nicht die nötige Autorität an den Tag gelegt, um diese zu führen.
Die Politik muss Kritikern Raum geben
Gysi gestand jedoch ein, dass die Ampel-Regierung große Aufgaben vor sich hatte, darunter die Ausläufer der Corona-Pandemie und die verpasste Diskussion darüber, was in dieser Zeit richtig und falsch gelaufen sei – etwa das Verbot, Seniorinnen und Senioren in Einrichtungen zu besuchen, und die Schulen zu schließen. Er wertete beides als Fehler und als zweiten Schub für die Alternative für Deutschland (AfD). Aus Gysis Sicht hätte es zur Corona-Politik im Parlament eine Enquete-Kommission geben müssen, um den Stimmen der Kritiker Raum zu geben.
Nicht nur in diesem Punkt forderte der Linken-Altstar, die politisch Verantwortlichen müssten besser erklären und die wahren Gründe für Entscheidungen nennen. Vielleicht lässt sich der Zuspruch von Wählerinnen und Wählern an den radikalen Rändern des politischen Spektrums so eingrenzen. Gysi, der schon zu DDR-Zeiten als Anwalt arbeitete, gab sich jedenfalls kämpferisch: „Ich kenne Diktatur und Demokratie – deswegen bin ich so leidenschaftlich.“
Raphael Arnold ist Redakteur bei FINANCE. Er studierte in Gießen und Alexandria (Ägypten) Geschichte, Geografie und Arabisch. Schon vor und während des Studiums schrieb er für verschiedene Tageszeitungen. Bei den Nürnberger Nachrichten absolvierte er ein Volontariat und arbeitete im Anschluss in deren Wirtschaftsredaktion. Danach war er über 13 Jahre für den US-Investment News Service OTR Global als Researcher und Projektmanager tätig. Beim Juve Verlag verantwortete er bis Oktober 2024 knapp acht Jahre lang die Österreich-Publikationen.
