Verwirrung statt Klarheit beim ESG-Reporting

Börsennotierte Firmen, die in der EU ansässig sind, müssen seit knapp einem Jahrzehnt detailliert ihre ökologischen Risiken offenlegen. Solche Nachhaltigkeitsberichte sind hingegen in den meisten anderen Ländern nicht obligatorisch. Dort veröffentlichen Unternehmen allenfalls auf freiwilliger Basis Sustainability Reports. Europäische Unternehmen fühlen sich deshalb bisweilen diskriminiert. Wenn ein Unternehmen öffentlich beichten muss, dass seine CO2-Emissionen über dem Branchendurchschnitt liegen, ist die Aktie für einige nachhaltige Anleger tabu. Bei Konkurrenten im europäischen Ausland, die keinen Berichtspflichten unterliegen oder nach anderen Maßstäben berichten, fällt aber vielleicht gar nicht auf, welch üble Klimasünder sie sind. Das International Sustainability Standards Board (ISSB) mit Sitz in Frankfurt am Main hat sich vorgenommen, diesen Missstand zu beseitigen. Die Organisation, die unter dem Dach der IFRS Foundation in London arbeitet, will weltweit einheitliche Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung schaffen. Vorbild ist der Bilanzstandard IFRS, der sich in den meisten Industrieländern durchgesetzt hat. Ende Juni veröffentlichte das ISSB die ersten beiden IFRS Sustainability Disclosure Standards. Der IFRS S1 betrifft die Grundlagen der Nachhaltigkeitsberichterstattung, der IFRS S2 regelt die Berichterstattung zu Klimarisiken. Weitere Richtlinien sollen künftig hinzukommen. Investoren fordern einheitliche Regeln Mit dem Regelwerk reagiert das Ende 2021 gegründete ISSB auf die weitverbreitete Forderung von Investoren nach einheitlichen Regeln für das Sustainability Reporting, so dass nachhaltigkeitsbezogene Informationen möglichst konsistent, vollständig und vergleichbar sind. „Es gibt auf internationaler Ebene eine Vielzahl an freiwillig anwendbaren Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung. Für die Unternehmen ist dies eine enorme Herausforderung.“ Matthias Schmidt, Deloitte „Bisher gibt es auf internationaler Ebene eine Vielzahl an freiwillig anwendbaren Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung. Für die Unternehmen ist dies eine enorme Herausforderung“, stellt Matthias Schmidt fest, Leiter der Abteilung Sustainability Assurance bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte. Das ISSB will allerdings kein umfassendes Regelwerk schaffen, sondern lediglich Mindestanforderungen für das Sustainability Reporting definieren. Ziel ist es, Standards zu schaffen, die in unterschiedlichen Ländern akzeptabel und daher international umsetzbar sind. „Dieses Grund-Set können dann einzelne Jurisdiktionen wie etwa die EU um zusätzliche Anforderungen erweitern“, erläutert Wirtschaftsprüfer Schmidt. Fehlende rechtliche Verpflichtung Unter Experten ist allerdings umstritten, ob das ISSB mit seinen Standards wirklich für ein Ende des heutigen Tohuwabohus sorgen wird. Denn das Regelwerk ist bislang in keinem einzigen Land bindendes Recht; es kann von den Unternehmen nur auf freiwilliger Basis angewandt werden. „Wir begrüßen es, dass das ISSB international einheitliche Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung schaffen will. Es ist jedoch zu befürchten, dass aufgrund der fehlenden rechtlichen Verpflichtung vergleichsweise wenige Unternehmen diese freiwilligen Standards auch anwenden werden“, argumentiert Jan-Hendrik Gnändiger, Head of Risk & Compliance Services bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG. Allerdings hat das ISSB viel getan, um für eine breite Akzeptanz seines Regelwerks zu sorgen. Nachdem das Gremium im März 2023 Entwürfe der beiden ersten Standards vorgelegt hatte, konnten Unternehmen, Investoren, Wirtschaftsprüfer, Wissenschaftler und Politiker Kommentare dazu abgeben, Kritik äußern und alternative Vorschläge einreichen. Binnen vier Monaten gingen beim ISSB 1.400 schriftliche Stellungnahmen ein. Kritik und Kommentare hat das Gremium in seinen Sitzungen erörtert und in die endgültigen Versionen einfließen lassen. „Dieser Prozess, in den sich Experten und relevante Stakeholder eingebracht haben, hat zu robusten Ergebnissen geführt“, glaubt Deloitte-Experte Schmidt. Für die ersten beiden Standards des ISSB sei die Qualität gegeben. Auch andere Fachleute haben inhaltlich wenig an der Arbeit des Boards zu bemängeln. „Die beiden Standards des ISSB profitieren von der Erfahrung der IFRS Foundation mit der Entwicklung globaler Rahmenwerke“, sagt Jens Freiberg, Vorstandsmitglied bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BDO. Der Aufbau folge dem gleichen Gerüst wie die Standards für die Finanzberichterstattung. Der Anwender fände somit leichter Zugang. Ab 2024 droht ein Wettrennen Das ISSB empfiehlt, seine beiden ersten Standards bereits mit Beginn des nächsten Jahres anzuwenden. Damit startet die Organisation allerdings in Europa ein unheilvolles Wettrennen, das sie unmöglich gewinnen kann. Denn Anfang 2024 tritt ebenfalls die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) in Kraft, die das EU-Parlament Ende 2022 verabschiedet hat. Diese Richtlinie bedeutet eine wesentliche Verschärfung der Nachhaltigkeitsberichterstattung, die in der EU bereits seit 2014 vorgeschrieben ist. Überdies erweitert sich ab 2025 der Kreis der betroffenen Unternehmen. Der CSRD unterliegen dann alle Firmen, die zwei von drei Kriterien erfüllen: Die Bilanzsumme ist höher als 20 Millionen Euro; die Netto-Umsätze übersteigen 40 Millionen Euro; es werden mehr als 250 Mitarbeiter beschäftigt. „Es ist nicht zu erwarten, dass diese Firmen gleichzeitig auf freiwilliger Basis auch noch die Standards des ISSB anwenden werden.“ Jan-Hendrik Gnändiger, KPMG Betroffen sind allein in Deutschland schätzungsweise 15.000 Unternehmen, europaweit etwa 50.000. Diese Firmen, die zum größten Teil nur über sehr begrenzte interne Ressourcen verfügen, haben alle Hände voll damit zu tun, sich auf die kommenden Berichtspflichten vorzubereiten. In vielen Fällen müssen neue Strukturen und Prozesse eingeführt werden, damit die erforderlichen Informationen ermittelt werden können. „Es ist nicht zu erwarten, dass diese Firmen gleichzeitig auf freiwilliger Basis auch noch die Standards des ISSB anwenden werden“, resümiert KPMG-Experte Gnändiger. Zwar besteht zwischen den beiden Regelwerken eine große Schnittmenge. Doch die Standards sind unterschiedlich ausgelegt. Das ISSB hat vor allem die Investoren im Blick. Die Unternehmen müssen daher umfassend berichten, wie zum Beispiel der Klimawandel ihre Geschäftsmodelle beeinträchtigt. Produziert ein Betrieb etwa an küstennahen Standorten, wo der steigende Meeresspiegel zu Überschwemmungen führen könnte? Wie hoch sind die CO2-Emissionen, die höhere Kosten verursachen werden, wenn in einem Emissionshandelssystem die zulässigen Mengen verknappt werden? Die Europäische Union hat darüber hinaus die Auswirkungen der betrieblichen Aktivitäten auf Umwelt und Gesellschaft im Visier. Der Kreis der Adressaten schließt nicht nur die Aktionäre ein, sondern ebenso Mitarbeiter, Bürger, Steuerzahler und andere Gruppen. Ein Unternehmen, das beide Regelwerke beachten will, ist zu einem gewissen Mehraufwand gezwungen. Auch in den USA soll ein rechtlich bindendes Regelwerk für die Nachhaltigkeitsberichterstattung eingeführt werden. Die Climate Disclosure Rule, für die die Börsenaufsicht SEC verantwortlich ist, tritt 2024 und 2025 in zwei Phasen für Großunternehmen und kleinere Firmen in Kraft. Scharfe Konkurrenz für das ISSB In den beiden wichtigsten Wirtschaftsräumen werden die freiwilligen Regeln des ISSB in scharfer Konkurrenz stehen zu den rechtlich verpflichtenden Standards. Laut dem ISSB-Vorsitzenden Emmanuel Faber seien rund 45 Länder grundsätzlich interessiert, die ISSB-Regeln einzuführen. Doch bislang hat kein einziger Staat der Welt verbindlich erklärt, dass er die ISSB-Standards in nationales Recht umsetzen werde. Laut KPMG erwägen dies nur wenige Industrienationen wie Großbritannien, Australien und Japan. „Ein größeres Interesse besteht darüber hinaus auch in Entwicklungs- und Schwellenländern, die bislang noch keine Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung haben“, so KPMG-Experte Gnändiger. Mithin wird es noch dauern, bis das Chaos bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung einheitlichen Regeln weichen wird.

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