Europa ist gezwungen, seine Abhängigkeiten aufzulösen und „neu in die Schuhe zu kommen“. So formulierte der frühere Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) zum Abschluss der 21. Structured FINANCE in Stuttgart die aktuellen Herausforderungen. Für Unternehmen schlage sich das in vier Aspekten nieder: Investitionskontrolle, Fachkräftemangel, Digitalisierung und Sicherheit.
Gerade im Bereich Rüstung und Sicherheit machte zu Guttenberg im Interview mit FINANCE-Chefredakteur Markus Dentz politische Fortschritte aus: „Wir kommen schneller voran, als zu erwarten war.“ Nach vielen Jahren der Versäumnisse, auch in seiner Amtszeit als Bundesverteidigungsminister von Oktober 2009 bis März 2011, müssten die europäischen Regierungen und Unternehmen nun schnell neue Wege in der Zusammenarbeit und der Beschaffung finden. Denn die Verteidigung müsse nötigenfalls auch ohne die USA funktionieren.
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Ohnehin sah zu Guttenberg Europa andauernden Gefahren ausgesetzt: „Wir sind bereits in einem hybriden Krieg“, sagte der frühere Bundesminister; auch Unternehmen seien Ziele von Angriffen. Der 54-Jährige appellierte deshalb an die versammelten CFOs, ihre Betriebe entsprechend aufzustellen und den „Verteidigungsfall mitzudenken“ – selbst wenn es zu einem Vertrag über ein Ende des Kriegs in der Ukraine komme. Vom ursprünglichen, Ende November gerade frisch aufgekommenen, umstrittenen 28-Punkte-Plan der US-Regierung hielt zu Guttenberg „nichts“ und erntete dafür Applaus.
Bundeswehr-Beschaffung als „Albtraum“
Als zentrale Themen im Bereich Sicherheit erachtete zu Guttenberg Cyberabwehr und Drohnen. Gerade die Produktion der unbemannten Flugkörper müsse Europa schnell hochfahren, und er forderte: „Wir müssen Wege finden, das außerhalb des schwerfälligen, traditionellen Beschaffungswesens zu machen“, das der Ex-Minister als „Albtraum“ bezeichnete.
Gegenüber den USA sollte Europa seiner Ansicht nach „nicht devot“ auftreten, sondern auf die gemeinsame Schlagkraft setzen, selbst wenn nicht alle EU-Länder dabei seien. Dass das funktioniere, zeige der Euro. Für den Umgang mit US-Präsident Donald Trump hatte er ebenfalls zwei Ratschläge: dem Narzissten schmeicheln und US-Interessen in den Vordergrund stellen, ohne dabei die eigenen zu schwächen.
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Mit der aktuellen Koalitionsregierung aus CDU und SPD ging zu Guttenberg hart ins Gericht – wie auch die Zuhörerinnen und Zuhörer im Saal. Eine Blitzumfrage vor Ort mit Hilfe von Mentimeter brachte hinter zu Guttenberg auf die Lichtwand, dass fast zwei Drittel die Regierungsarbeit als „eher kritisch“ oder „sehr kritisch“ bewerteten. In einem Publikum von Finanzspezialisten ist das eine Klatsche für die unionsgeführte Bundesregierung unter dem früheren Blackrock-Manager Friedrich Merz.
Mut zu politischer Führung vermisst
Karl-Theodor zu Guttenberg schloss sich dem Urteil an: „Ich bin in dem Camp sehr kritisch.“ Der frühere Bundesminister vermisste vor allem in der Innenpolitik den Mut zu echter politischer Führung angesichts einer „Kaskade von Schocks und Einflüssen“, die das Weltgeschehen derzeit bestimmen. Der Bundeskanzler solle bei drei Themen stehen, ohne sich vom kleineren Koalitionspartner treiben zu lassen. Bei 17 anderen könne man über Kompromisse reden. Andernfalls verliere er den Respekt vor seiner Führungskompetenz, schrieb er Merz ins Stammbuch: „Wir brauchen Mut und sollten nicht vorauseilend Angst vor dem Scheitern haben.“
Ein Scheitern der Bundesregierung stand Ende November aber im Raum, weil eine Gruppe von 18 jungen Unionsabgeordneten angekündigt hatte, die Pläne zur Rentenreform im Bundestag platzen zu lassen; 20 Wirtschaftswissenschaftler, darunter der Ifo-Präsident Clemens Fuest und der Präsident des Instituts der deutschen Wirtschaft Michael Hüther, forderten ebenfalls, das Vorhaben zu stoppen. Inzwischen ging es mit Kanzlermehrheit durch den Bundestag, ohne dass die öffentliche Kritik abriss.

Richtige Fragen zur Rente gestellt
„Die jungen Abgeordneten formulieren die richtigen Forderungen“, sagte zu Guttenberg: „Aber es wäre Irrsinn, wenn die Regierung darüber zerbräche.“ Selbst wenn er sein Vertrauen in deren Lösungskompetenz als begrenzt beschrieb.
Zu Guttenberg machte aber auch darauf aufmerksam, wie stark sich der politische Betrieb und die mediale Berichterstattung seit seiner Amtszeit vor knapp 15 Jahren verändert habe. „Es ist ja eine neue familiäre Nähe zur Politik da“, spielte er auf seine Beziehung mit Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) an, die seit April 2025 öffentlich bekannt ist.
Social Media bezeichnete zu Guttenberg als „Medien auf Speed“. Anders als früher gebe es kaum noch Zeit, sich mit Vertrauten auszutauschen und dann auf Inhalte zu reagieren. Dass auf manchen Plattformen „kübelweise Mist“ ausgeschüttet werde, verschaffe letztlich den Rändern des politischen Spektrums Auftrieb.
„Gysi gegen Guttenberg“ als Beispiel
Zu Guttenberg will als Unternehmer und Publizist einen anderen Stil. Respekt mahnte er als zentralen Begriff an, denn: „Es gibt eine Sehnsucht nach einer anderen Art des Umgangs“, sagte zu Guttenberg. Darin sah er auch einen Auslöser für seinen gemeinsamen Podcast mit dem langjährigen Politikprofi Gregor Gysi von den Linken. Der war vor einem Jahr als Gast bei der Structured FINANCE mit dem Appell aufgetreten, die politische Mitte in Deutschland zu stärken.
Raphael Arnold ist Redakteur bei FINANCE. Er studierte in Gießen und Alexandria (Ägypten) Geschichte, Geografie und Arabisch. Schon vor und während des Studiums schrieb er für verschiedene Tageszeitungen. Bei den Nürnberger Nachrichten absolvierte er ein Volontariat und arbeitete im Anschluss in deren Wirtschaftsredaktion. Danach war er über 13 Jahre für den US-Investment News Service OTR Global als Researcher und Projektmanager tätig. Beim Juve Verlag verantwortete er bis Oktober 2024 knapp acht Jahre lang die Österreich-Publikationen.
