Fünf Jahre nach dem Bilanzskandal des Zahlungsdienstleisters Wirecard ist der frühere Vorstand Jan Marsalek in Moskau aufgespürt worden. Ein internationales Netzwerk von Journalisten – darunter der „Spiegel“, das ZDF, die österreichische Zeitung „Standard“, sowie die russische Plattform „The Insider“ und des US-amerikanischen TV-Senders PBS – konnte den 45-jährigen Österreicher zweifelsfrei identifizieren. Marsalek lebt demnach unter falschem Namen in der russischen Hauptstadt und soll für den Inlandsgeheimdienst FSB tätig sein.
Fotos und Handydaten von Marsalek veröffentlicht
Die Medienveröffentlichungen vom Dienstag zeichnen ein konkretes Bild: Aufnahmen zeigen Marsalek etwa auf dem Weg von einer Moskauer U-Bahn-Station zur Zentrale des FSB. Auch Handydaten bestätigen seine regelmäßige Präsenz an diesem Ort. So sei zwischen Januar und November 2024 sein Mobiltelefon insgesamt 304-mal in unmittelbarer Nähe erfasst worden.
Offenbar bedient sich Marsalek mehrerer Identitäten. Nach neuesten Erkenntnissen nutzt er unter anderem einen gültigen russischen Pass. Dieser weist ihn als Alexander Michaelowitsch Nelidov aus, geboren am 22. Februar 1978 in Riga. Darüber hinaus deuten Mobilfunkdaten darauf hin, dass Marsalek häufig in einem Ibis-Hotel im Zentrum Moskaus übernachtet. Auch dort loggt sich eines seiner Telefone regelmäßig ein.
Eine zentrale Rolle spielt offenbar auch Tatiana Spiridonova, eine 41-jährige Übersetzerin, die Marsalek häufig begleitet. Die beiden wurden nicht nur gemeinsam fotografiert, Recherchen zufolge hält sich Marsalek auch regelmäßig in ihrer Wohnung auf. Spiridonova übernahm zudem offenbar operative Aufgaben: Ende Dezember 2022 soll sie etwa einen Laptop mit sicherheitstechnischer Ausstattung, die für den FSB von Interesse ist, nach Russland geschmuggelt haben. Flugdaten belegen die Einsätze.
Marsalek wohl schon länger als Russlandspion tätig
Schon im März 2024 hatten mehrere Medien unter Berufung auf westliche Geheimdienste berichtet, Marsalek sei seit Jahren im Dienst des FSB. Quellen in Moskau bestätigten demnach seine Rolle als Informant. Datenanalysen dokumentieren darüber hinaus Reisen in das umkämpfte Gebiet der Ostukraine, darunter auch ins von Russland besetzte Mariupol.
Einen weiteren Strang der Affäre bildet ein Spionageverfahren, das im November 2024 vor dem Londoner Hochsicherheitsgericht Old Bailey begann. Dort wurden sechs bulgarische Staatsbürger angeklagt, unter Marsaleks Führung im Auftrag Russlands tätig gewesen zu sein. Die Gruppe soll mehrere Geheimdienstoperationen geplant und durchgeführt haben, darunter auch mutmaßlich geplante Entführungen.
Im Wirecard-Skandal: Marsalek als Hauptverdächtiger
Marsalek, der seit 2010 dem Vorstand von Wirecard angehörte, gilt als Schlüsselfigur in dem Wirtschaftsskandal, der 2020 publik wurde. Die Saldenbestätigungen für rund 1,9 Milliarden Euro, die aus Drittpartnergeschäften stammen und auf Treuhandkonten in Südostasien liegen sollten, stellten sich als gefälscht heraus, vermutlich hatten sie nie existiert. Die Münchener Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen bandenmäßigen Betrugs, besonders schwerer Untreue und weiterer Wirtschaftsdelikte. Ex-Wirecard-CEO Markus Braun muss sich derzeit vor dem Münchener Landgericht wegen derselben Vorwürfe verantworten.
Am Abend des 19. Juni 2020, wenige Tage vor dem Insolvenzantrag von Wirecard, setzte sich Marsalek damals ins Ausland ab. Vom österreichischen Kleinflughafen Bad Vöslau flog er nach Minsk, zu einem Zeitpunkt, als gegen ihn bereits dringender Tatverdacht bestand. Ein Haftbefehl wurde jedoch erst am 22. Juni erlassen. Am 25. Juni meldete der ehemalige Dax-Konzern Insolvenz an. Seitdem war Marsaleks Aufenthaltsort Gegenstand intensiver Spekulation. Nun ist seine Spur nach Moskau endgültig bestätigt.