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Kartelle: EU sägt weiter an Kronzeugenschutz

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Der EuGH hat dem fast unbegrenzten Kronzeugenschutz einen Dämpfer verpasst.
Thinkstock / Getty Images

Für ordentlich Medienwirbel hat ein Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor wenigen Tagen gesorgt: Darin hat der EuGH klargestellt, dass Kartellmitglieder auch für „Preisschirmeffekte“ haften – gemeint damit sind Preissteigerungen, die am Kartell unbeteiligte Unternehmen vornehmen, weil sich das Preisniveau infolge des Kartells erhöht hat. Wer deshalb höhere Einkaufpreise bei dem unbeteiligten Unternehmen zahlen muss, kann sich die Differenz als Schadensersatz von den Kartellmitgliedern zurückholen.

Während Medien die Entscheidung als Ausweitung der Kartellhaftung deuten, zeigen sich Praktiker wenig beeindruckt. „Wir begrüßen das Urteil als Klarstellung auf europäischer Ebene natürlich, aber eigentlich ist es nichts Revolutionäres, da die Geltendmachung von Preisschirmeffekten nach deutschem Recht ohnehin schon möglich war“, sagt Tilman Makatsch, Leiter der Sondereinheit Kartellschadensersatz der Deutschen Bahn. Die Bahn macht in mehreren Fällen Schadensersatz für Preisschirmeffekte vor Gericht geltend.

Kronzeugenschutz bei Kartellen nicht unantastbar

Bemerkenswert dagegen sei eine in der Entscheidung fast versteckte Passage, sagt Makatsch. Die Teilnehmer des „Aufzugskartells“, die nach Ansicht der Richter für Preiserhöhungen ihrer Abnehmer haften sollen, hatten sich gegen das Urteil mit dem Hinweis gewehrt, dass die erweiterte Haftung potentielle Kronzeugen von der Kooperation mit Behörden abschrecken könne.

Die Luxemburger Richter betonen, dass die europäische Kronzeugenregelung keine Gesetzeskraft besitze und für die Mitgliedsstaaten nicht verbindlich sei – und damit auch kein Kartellopfer davon abhalten könne, vor nationalen Gerichten auf Schadensersatz wegen Preisschirmeffekten zu klagen. „Das zeigt einmal mehr, dass der Kronzeugenschutz nicht unantastbar ist“, meint Makatsch. „Entweder muss er nun selbst in Gesetzesform gegossen werden oder die Kartellbehörden müssen ihre Zurückhaltung bei berechtigen Akteneinsichtsansprüchen von Geschädigten überdenken.“

„Pfleiderer“-Grundsatz wackelt

Das Bundeskartellamt und deutsche Gerichte hatten in der Vergangenheit immer wieder auf den Stellenwert des Kronzeugenschutzes bei Kartellen gepocht – so vor allem im viel zitierten „Pfleiderer“-Fall, in dem das Amtsgericht Bonn dem Oberpfälzer Holzverarbeiter nicht erlaubt hatte, zur Vorbereitung einer Schadensersatzklage die Kronzeugenanträge der Kartellmitgliedereinzusehen. Allerdings hatte sich bereits in den vergangenen Monaten der Abschied vom uneingeschränkten Schutz der Kronzeugen angedeutet, als mit dem OLG Hamm erstmals ein Zivilgericht einem Kartellopfer im Schadensersatzprozess Zugang zu den Anträgen der Kronzeugen gewährt hatte.

Die Entscheidung liegt ganz auf der Linie der EU, die Schadensersatzklagen von Kartellopfern mit Nachdruck fördern will. Nachdem auch eine Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des OLG Hamm erfolglos geblieben war, müssen sich Unternehmen bei Wettbewerbsverstößen bald wohl flächendeckend auf eine härtere Gangart einstellen – undsollten sich vor allem nicht mehr auf den bisher sicheren Hafen des Kronzeugenschutzes verlassen.

sarah.nitsche[at]finance-magazin.de

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