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Corona und Lieferketten: „Wie eine Kriegssituation“

LKWs stauen sich an den Grenzen: Sind die Lieferketten irgendwie noch zu retten?
Vera Shestak/iStock/Getty Images

Herr Schreiner, fast überall in Europa werden die Menschen gebeten, zu Hause zu bleiben.  Die Grenzen sind dicht, viele Fabriken zu. Können Unternehmen in so einer Situation überhaupt noch ihre Lieferketten aufrecht erhalten?
Nein, das ist nahezu unmöglich. Man muss es so offen sagen: Das, was wir gerade erleben, ähnelt einer Kriegssituation. Für Unternehmen gibt es aber auch signifikante Parallelen zu den Herausforderungen in der Wirtschafts- und Finanzkrise im Herbst und Winter 2008/2009.

Welche genau?
Erneut ist es so, als hätte jemand den Teppich weggezogen. Die Nachfrage nach fast allen Produkten ist weg. Was die aktuelle Lage vielleicht noch schwerer macht als die damals, ist, dass wir nicht nur eine scharfe Nachfrage-, sondern auch eine Angebotskrise haben. Einerseits müssen CFOs und Lieferkettenmanager auf mittlere Sicht ihre Unternehmen dafür rüsten, eine gegebenenfalls rasch wieder anziehende Nachfrage auch bedienen zu können. Dafür müssen sie jetzt vorausplanen, welche Mengen an welchen Produkten und Materialien sie zu diesem Zeitpunkt in ihrem Lager benötigen werden – ohne dabei zu üppige Lagerbestände aufzubauen. Kurzfristig muss es aber erst einmal darum gehen, die Kontrolle wiederzuerlangen.

CFOs haben die Kontrolle über ihre Lieferketten verloren?
Ja, sehr viele, davon gehe ich aus. Die Lage ist extrem unübersichtlich. Die Lieferketten aus Italien sind bereits abgerissen, jetzt folgen fast alle weiteren kurz nacheinander. Dabei genügt oft schon eine einzige Störung, ein einziges nicht mehr lieferbares Teil, und die gesamte Liefer- und Produktionskette gerät ins Wanken. 

Das größere Problem vieler CFOs sind die Lieferungen, die noch ankommen.

Jetzt, da die Nachfrage der Kunden zusammengebrochen ist, hat der CFO in vielen Unternehmen sogar ein noch viel größeres Problem mit den Lieferungen, die noch kommen, die das Unternehmen aber nicht mehr weiterverarbeiten kann. Eigentlich muss der CFO auch diese Lieferungen sofort stoppen. Aber die Verträge gelten, und jede rabiate Handlung schlägt hart auf genau die Lieferanten zurück, die man in einigen Wochen wahrscheinlich wieder braucht.

Trotzdem ist der Stopp von Lieferungen für viele Unternehmen im Moment alternativlos, da sonst die Lager überquellen – just in einer Phase, in der der CFO jeden Euro zusammenhalten muss.

Es gibt aber immer noch Unternehmen, deren Produkte nach wie vor nachgefragt werden – haltbare Lebensmittel, Hygiene- und Medizinprodukte sogar weitaus stärker als sonst. Welchen Ratschlag haben Sie für die CFOs dieser Firmen?
Vorsicht bei LKW-Transporten, die sind ganz kritisch! Von der Bewegungsfreiheit des Fahrers über die Grenzkontrollen bis hin zur geringen Menge transportierter Waren je Fahrt gibt es Probleme über Probleme. Mein Rat wäre, wo immer möglich, Containerlieferungen vom LKW auf den Zug umzuladen, denn Züge sind in der aktuellen Läge deutlich verlässlicher als LKWs.

Und Luftfracht?
Die leidet unter dem Grounding der Passagierjets. Bei den Cargo-Töchtern der großen Airlines werden oft weit mehr als die Hälfte der Waren im Bauch von Passagierflügen transportiert, und die gibt es im Moment nicht. Theoretisch könnten die Passagierjets auch ausschließlich mit Fracht beladen fliegen, die Lufthansa prüft das gerade mit ihren 747 Jumbo-Jets. Aber die Transportstückkosten wären da so hoch, dass sich das eigentlich nur für sehr kritische, hochwertige und margenstarke Kleinprodukte lohnt, etwa für medizinische Ausrüstung und Materialien. Ob es solche Flüge im großen Stil geben wird, vermag ich heute nicht zu sagen. 

Ist es da nicht fast schon eine gute Nachricht, dass ausgerechnet jetzt die Containerschifftransporte aus China nicht ankommen, die dort in den letzten sechs Wochen nicht auf den Weg geschickt werden konnten?

Für Produzenten, die in China kritische Teile sourcen, ist das überhaupt keine Hilfe, im Gegenteil. Da bleiben dann im Zweifel jetzt auch noch halbfertige Waren in der Fabrik liegen, weil der Nachschub aus China fehlt. Aber von den Händlern freuen sich sicherlich einige. Wenn ich gerade einen Baumarkt oder einen Leuchtenhandel betreibe, ist es nicht schlecht, dass erst einmal nicht so viel neue Ware hereinkommt.

Von wann bis wann rechnen Sie mit einem „China-Gap“ bei den Containerschiffen?

Das China-Gap bei den Containerschiffen können wir hier von Anfang April bis Mitte Mai erwarten.

Door To Door benötigen die Waren vom chinesischen Fabrikanten zum deutschen Abnehmer acht bis zwölf Wochen. Basierend auf den Produktionsdaten aus China können wir das „China-Gap“ hier in Deutschland auf Anfang April bis Mitte Mai taxieren. Ab Mitte Mai sollten die Lieferungen aus China dann aber wieder nahezu komplett ankommen, sofern China seine Industrie weiterhin so konsequent wieder hochfährt wie in der vergangenen Woche.

Sie erwähnten eingangs auch ein gesamtgesellschaftliches Lieferkettenproblem. Was meinen Sie damit?
Ich befürchte, dass es in einigen Tagen in Deutschland Engpässe bei der Versorgung mit frischen Lebensmitteln geben könnte. Denn wer erntet und transportiert denn jetzt das frische Obst und Gemüse, das in Spanien, Italien oder Holland gerade reif wird? Das ist ein sehr ernstes Problem. Grundsätzlich hat Deutschland zwar alle Voraussetzungen für die Selbstversorgung für Milch, Kartoffeln, Fleisch und Gemüse. Es sollte deshalb keine Panik entstehen. Aber auch in Deutschland stellt sich die Erntefrage: Momentan geht die Ernte in Deutschland los, besonders bei dem allseits beliebten Spargel, bei Paprika und Gemüse in Gewächshäusern. Der Deutsche Bauernverband (DBV) rechnet angesichts der Grenzschließungen wegen des Coronavirus mit einem akuten Mangel an Erntehelfern aus dem Ausland.

Info

Wilhelm Schreiner ist Head of Supply Chain & Procurement Europe bei dem Beratungshaus The Hackett Group.

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