Geht es Ihnen auch so wie mir? Wenn es um Wirecard geht, brennen mir seit geraumer Zeit unheimlich viele Fragen unter den Nägeln. Wie konnte so ein Skandal passieren? Warum hat niemand etwas gemerkt, trotz vieler Warnzeichen? Besonders unverständlich war für mich als jemand, der beruflich viel mit Bilanzierung und Bilanzfälschung zu tun hat, der Umgang von Wirecards Prüfer EY mit den Treuhandkonten. 1,9 Milliarden Euro haben da letztlich gefehlt. Die Lösung des Rätsels schien in weiter Ferne.
Umso gespannter war ich auf die Zeugenbefragung von EY und dem Wirecard-Chef-Buchhalter Stefan von Erffa im Untersuchungsausschuss des Bundestags. Diese war sehr geballt, bei 30 Stunden Zeugenbefragungen mit einer kurzen Nachtruhe von weniger als fünf Stunden – aber es hat sich gelohnt.
Sind Guthaben auf Treuhandkonten Zahlungsmittel?
Vieles ist fragwürdig beim Thema Treuhandkonto: Dürfen sich Wirtschaftsprüfer mit einer Bestätigung des Treuhänders abspeisen lassen und müssen nicht die Saldenbestätigung der Banken einholen? Und noch eine andere Frage steht im Raum: Dürfen Guthaben auf Treuhandkonten unter dem Bilanzposten „Zahlungsmittel und Zahlungsmitteläquivalente“ ausgewiesen werden, wie es Wirecard getan hat?
Darüber gibt es scheinbar selbst zwischen Wirtschaftsprüfern keine Einigkeit – während EY diese Bilanzierung akzeptiert hat, zweifelte der Sonderprüfer KPMG sie an. Wirecard hat den Anlass gegeben, dass dieser Streit um die Treuhandkonten nun sogar in der Fachwelt kontrovers diskutiert wird.
Ein Blick in den Geschäftsbericht 2018 zeigt: Weder der Begriff „Treuhandkonto“ noch das englische Pendant „Escrow Accounts“ tauchte darin auf. Damit wurde Chef-Buchhalter Stefan von Erffa auch im Untersuchungsausschuss konfrontiert. Seine Antwort: Es sei im Geschäftsbericht aus dem Jahr 2018 auf Seite 142 darüber berichtet worden. Dennoch musste er bei einer Nachfrage des Abgeordneten Danyal Bayaz zugeben, dass weder Hinweise auf den Betrag noch auf den Begriff selbst zu finden waren.
Wirecard war extrem intransparent
Auch der Qualitätsmanager Christian Orth von EY musste bei seiner Befragung zugeben: Für die Transparenz der Rechnungslegung wäre die Angabe der Treuhandkonten gut gewesen. Denn tatsächlich war das, was auf Seite 142 stand, nicht besonders transparent oder verständlich: „Auch Konten aus dem Acquiringbereich, die zum Teil nicht direkt, aber auf Rechnung von Wirecard gehalten werden, werden unter den Zahlungsmitteln ausgewiesen, wenn die Wirecard über diese Gelder kurzfristig verfügen kann“, heißt es im Geschäftsbericht.
Dass es sich dabei scheinbar um Milliardensummen handelte, wird nicht erwähnt. Anderes hingegen schon: Direkt nach diesen Erläuterungen wird auf die Gelder hingewiesen, die Wirecard nicht zu freien Verfügung stehen. Dabei handelt es sich um 12,7 Millionen, die unter den Forderungen ausgewiesen wurden. Dieser Abschnitt lässt mich verwundert zurück: Kleinbeträge werden detailliert erläutert, während Milliarden-Beträge nicht genannt werden. Das mag erlaubt sein, doch zeigt dies die erhebliche Intransparenz der Berichterstattung von Wirecard. Diese wurde bereits von Anlegerschützern vor mehr als zehn Jahren kritisiert.
Durch den Ausweis der Guthaben auf Treuhandkonten unter den Zahlungsmitteln wurde den Anlegern eine sprudelnde Liquidität vorgegaukelt. Warum musste Wirecard dann dauernd hohe Kredite aufnehmen und 2019 erstmals eine Anleihe in Höhe von 500 Millionen Euro ausgegeben? Diese Frage stellte offenbar keiner, zumindest nicht rechtzeitig.
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Geheimpapier zu den Treuhandkonten aus dem Jahr 2016
Doch wie kam Wirecard überhaupt auf die Idee mit den Treuhandkonten? Das war einer der Knackpunkte in der Befragung von EY. Ich kann nicht mehr genau sagen, wann der Ausschussvorsitzende Key Gottschalk ein gewisses Schreiben von EY ins Gespräch brachte. Doch diesen Moment werde ich nie vergessen: War das die Lösung des Rätsels?
Nervös tippte ich in die Tasten meines Laptops. Kann es wirklich so einfach sein? Ich erinnerte mich an einen Spruch, den ich kurz nach der Wirecard-Pleite gehört habe. Wissen Sie noch, warum aus den Big Five die Big Four wurden? „Enron raubte die Bank, Arthur Andersen stellte das Fluchtauto zur Verfügung.“ In der nächsten Pause tauschte ich mich mit meinem Kollegen aus. Wir waren beide ziemlich angespannt und redeten wild durcheinander. Es ging weiter, wir mussten zurück zur Sitzung.
Was war so brisant an diesem Schreiben? EY bat Wirecard darin um eine Bestätigung. „Wir bitten Sie als Wirecard-Management freundlich, unser gemeinsames Verständnis dieser Geschäftsbeziehungen mit Bezug auf die folgenden Punkte zu bestätigen“, hieß es in einem Schreiben von EY-Mitarbeitern vom 3. März 2016. Im März 2016 wurde die Bilanzierung des Treuhandgeschäfts eingeführt. Wessen Idee war das? Von Wirecard selbst – oder etwa von EY?
„Wir bitten Sie als Wirecard-Management freundlich, unser gemeinsames Verständnis dieser Geschäftsbeziehungen mit Bezug auf die folgenden Punkte zu bestätigen.“
Treuhandkonten lösen viele Probleme
Was wäre denn passiert, wenn diese neue Bilanzierungsart nicht eingeführt worden wäre? Das zeigt ein Blick in den Geschäftsbericht. Vor 2016 waren die Forderungen deutlich angestiegen. Bei der Prüfung des Jahresabschlusses wurde Wirecard vermutlich mit folgender Thematik konfrontiert: Wenn die Forderungen nicht werthaltig sind, erfordert dies eine entsprechende Korrektur und führt somit zu einer Verringerung des Gewinns.
Für einen angehenden Börsenstar kein wünschenswertes Szenario. Doch durch die Einrichtung von Treuhandkonten ist dieses Problem aus der Welt geschafft: Denn Zahlungsmittel lassen sich deutlich leichter prüfen als Forderungen – ein (gefälschter) Saldenbeleg reicht aus. Das mussten auch die Prüfer von EY im Untersuchungsausschuss zugeben. Doch bei der Frage, ob EY selbst Wirecard die Einrichtung von Treuhandkonten empfohlen hatte, mussten sie passen. Die Antwort darauf könnte über das Schicksal der Prüfer entscheiden.