Warum kommt die rein virtuelle Hauptversammlung gerade jetzt?
Während rein virtuelle Aktionärstreffen in anderen Ländern bereits seit längerem möglich sind, hat der deutsche Gesetzgeber diese Möglichkeit nun neu geschaffen. Auslöser für diese Entscheidung ist der Kampf gegen das Coronavirus, durch welches Ansammlungen größerer Gruppen in diesem Jahr während der klassischen HV-Periode im Frühjahr nicht möglich sind. Vorreiter ist Bayer: Der Dax-Konzern lädt seine Aktionäre für den 28. April zu einer reinen Online-Hauptversammlung ein.
Zwar ist die vollständig virtuelle Hauptversammlung in Deutschland neu, einzelne Elemente sind jedoch erprobt: „Gerade größere Unternehmen haben Erfahrung damit, Teilbereiche ihrer Hauptversammlung virtuell umzusetzen“, sagt Mirko Sickinger, Rechtsanwalt im Kölner Büro der Sozietät Heuking Kühn Lüer Wojtek. So manche Aktionärstreffen seien in der Vergangenheit bereits online als Stream übertragen worden. Auch die Möglichkeit, im Vorfeld sowie während der Hauptversammlung Fragen elektronisch zu übermitteln oder auf diesem Wege abzustimmen, hatten einzelne Unternehmen bereits eingeräumt.
Welche Fristen gelten für die virtuelle Hauptversammlung?
Zu dem virtuellen Aktionärstreffen müssen die Konzerne mit mindestens 21 Tagen Vorlauf einladen. Das ist eine Verkürzung gegenüber der Regelung für eine Präsenzveranstaltung, die mindestens 30 Tage Vorlauf zuzüglich einer mehrtägigen Anmeldefrist vorsieht.
Auf Investor Relations kommt dennoch Mehraufwand zu: Die Unternehmen müssen für eine virtuelle Hauptversammlung neu einladen – auch wenn sie die Einladungen für ihre Präsenz-HV bereits verschickt hatten. „Die Unternehmen müssen in der neuen Einladung etwa auf die Partizipationsmöglichkeiten hinweisen und angeben, bis zu welchem Datum Aktionäre ihre Fragen elektronisch übermitteln müssen“, erklärt Jurist Sickinger.
Welche Punkte sind bei der Neuregelung problematisch?
Aktionärsschützer monieren, dass die Anteilseigner bei einer virtuellen HV benachteiligt werden könnten. Ein Problem: Die Regelung gibt Unternehmen die Möglichkeit, Fragen bis zwei Tage vor dem virtuellen Treffen anzunehmen – doch auch die Stimmabgabe können sie so regeln, dass Aktionäre über die Tagesordnungspunkte nur bis zu Beginn der virtuellen Hauptversammlung abstimmen können. Die Aktionäre müssten also Entscheidungen treffen, bevor sie die Antworten auf ihre Fragen gehört haben. Dies könnten insbesondere kleinere Gesellschaften ausnutzen, um Hauptversammlungen abzukürzen, merkt Sickinger an. „Solch ein Vorgehen ist natürlich für Aktionärsvertreter nicht wünschenswert, aber rein rechtlich wäre es dem Wortlaut nach möglich.“
Große Unternehmen dagegen werden es sich allein aus Corporate-Governance-Gründen nicht leisten können, sich so zu verhalten. Aktionäre der virtuellen Bayer-HV beispielsweise können ihr Stimmrecht vorab per Briefwahl oder per Vollmacht an einen Stimmrechtsvertreter ausüben. Beides sei zudem online auch während der Veranstaltung noch möglich, versichert der Konzern.
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Raum für Interpretationen lässt derzeit ein weiterer Punkt: Der Vorstand soll die fristgerecht eingereichten Fragen seiner Aktionäre nach „pflichtgemäßem freien Ermessen“ beantworten. Doch wo verläuft die Grenze zwischen dem Informationsinteresse der Aktionäre, das der Vorstand „pflichtgemäß“ zu bedienen hat, und seinem freien Ermessen, eine bestimmte Frage lieber nicht zu beantworten? „Das ist ein Spannungsverhältnis, über das nicht nur wir Juristen in den kommenden Wochen sicherlich noch diskutieren werden“, erwartet Sickinger.
Wie können sich Unternehmen vor Anfechtung schützen?
Eines hat der Gesetzgeber pauschal geregelt: Ein HV-Beschluss kann nicht angefochten werden, nur weil der Beschluss im Rahmen einer virtuellen Veranstaltung gefasst wurde. „Dies soll Anfechtungen wegen technischer Versäumnisse wie überlasteter Leitungen ausschließen“, erklärt Sickinger. Die einzige Ausnahme wäre ein Fall, in dem das Unternehmen einen solchen technischen Aussetzer vorsätzlich herbeigeführt hätte.
Der inhaltliche Widerspruch gegen Beschlüsse der HV bleibt auch bei einer virtuellen Veranstaltung möglich. „Hierzu können Unternehmen beispielsweise eine Mail-Adresse des beurkundenden Notars zirkulieren, bei dem die Aktionäre dann ihren Widerspruch hinterlegen können.“
In der strittigen Frage, wie viel Zeit auf die Beantwortung von Investorenfragen aufgewendet werden sollte, rät der Jurist, sich an den Maßgaben einer physischen Hauptversammlung zu orientieren. „In der Praxis hat sich ein Richtwert von sechs Stunden durchgesetzt, den man als Nettozeit für die Generaldebatte mit Aktionärsfragen ansetzt. Alles, was man in dieser Zeit beantworten kann, sollte man auch beantworten.“
Ist die virtuelle Hauptversammlung als Dauerlösung denkbar?
Zunächst gilt die Neuregelung nur für Hauptversammlungen, die 2020 stattfinden. Doch gerade für kleinere Unternehmen am Kapitalmarkt könnte die virtuelle HV als Dauerlösung interessant sein, findet Sickinger. Für diese sei eine Präsenz-Hauptversammlung auch ein Kostenfaktor, für Raummieten und Verpflegung könnten unter Umständen Summen von 100.000 Euro und mehr zusammenkommen.
„Ich fände eine Wahlmöglichkeit zwischen virtueller und Präsenz-HV auch zeitlich unbefristet sinnvoll“, sagt der Jurist. Allerdings müssten dafür die Schlupflöcher gestopft werden, die beispielsweise durch vorgelagerte Abstimmungszeiträume die Mitwirkung der Aktionäre beeinträchtigen.
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